Wir beleuchten den Gender Health Gap

Ist Gesundheit eine Frage des Geschlechts?

Gender Health Gap

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© Pexels/ Anna Shvits

Gender Health Gap: In der Medizin gilt der männliche Körper weitestgehend als Prototyp. Warum Frauen in Forschung, Diagnostik und Behandlung noch immer benachteiligt werden.

Wusstest du, dass sich ein Herzinfarkt bei Frauen durch Übelkeit, Atemnot oder Rückenschmerzen zeigen kann? Auch bei Männern werden manchmal andere Symptome als die typischen Schmerzen in der Brust hervorgerufen. Bei Frauen kommt das aber viel häufiger vor. Deshalb wird bei ihnen ein Herzinfarkt oft zu spät erkannt. Dazu herrscht nicht nur in der Gesellschaft wenig Wissen, sondern tatsächlich auch beim medizinischen Personal. Das Ungleichgewicht bei den Geschlechtern lässt sich unter dem Begriff „Gender Health Gap“ zusammenfassen.

Soll heißen: Frauen werden in Sachen Gesundheit benachteiligt. Das Problem umfasst nicht nur die Späterkennung bei Herzinfarkten, sondern fängt bereits in der Forschung an, weiß Univ.-Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer, Gendermedizineri an der Med Uni Wien. Die Fachärztin für Innere Medizin hat dazu viele Forschungen angestellt und auch einige Bücher veröffentlicht.

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Medikamentenforschung an Männern

„Früher gab es klinische Studien über Medikamente, die ausschließlich an Männern getestet wurden – zum Beispiel bei Aspirin“, weiß Kautzky-Willer. Auch bei Untersuchungen zu Diabetes waren nur 15 Prozent weibliche Probandinnen involviert. „Mittlerweile beträgt der Frauenanteil durchschnittlich 25 bis maximal 30 Prozent, sofern sie auch von der entsprechenden Krankheit betroffen sind und somit das Medikament erhalten sollen.“

Es hätte sich zwar viel getan, „aber wir sind noch nicht da wo wir hinwollen“, so die Gendermedizinerin. Der Contergan-Skandal in den späten 1950er-Jahren war ein Rückschlag: Medikamente wurden danach weniger an Frauen getestet. Damals bekamen Schwangere das Beruhigungsmittel gegen Schlaflosigkeit, das Missbildungen bei Neugeborenen hervorrief.

Dass Frauen in der Pharmaforschung weniger berücksichtigt werden, hat aber viele Gründe und sei sehr komplex, so die Expertin. „Man hat erkannt, dass es ohne Daten von Frauen nicht geht. Durch das Ausblenden aus der Forschung hatten sie mit vielen Nebenwirkungen zu kämpfen.“ Medikamente wurden deshalb sogar vom Markt genommen.

Die Unterschiede der männlichen und weiblichen Körper sind ganz eindeutig: „Frauen verlieren durch Diabetes mehr Lebensjahre und versterben häufiger an Herz-Kreislauferkrankungen als Männer“, weiß Kautzky-Willer. Sie erleiden aber Herzinfarkte oder Schlaganfälle oft erst später im Leben.

In der Medizin sind Frauen heute noch stark benachteiligt.
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Fehldiagnosen bei Frauen

Eine dänische Studie, die über einen Zeitraum von 21 Jahren durchgeführt wurde, zeigt, dass Frauen bei mehr als 700 Krankheiten eine spätere Diagnose erhalten haben als Männer. „Über die Gründe kann nur spekuliert werden“, so die Gendermedizinerin.

„Egal ob Diabetes, Asthma oder chronisch-entzündliche Darmerkrankungen: Symptome und Befunde von Frauen können offensichtlich weniger gut eingeordnet werden“, so Kautzky-Willer.

Herzinfarkte bleiben bei Frauen öfter unerkannt

Bei der Erkennung von Herzinfarkten sei die Symptom-Vielfalt oft das Problem: Viele Frauen beschreiben nicht den Brustschmerz als Hauptsymptom, sondern etwa Schmerzen im Kieferbereich, in den Schulterblättern oder im Oberbauch. „Oft liegt auch Schwäche, Übelkeit und Erbrechen vor“, weiß die Expertin. Dabei sei es nicht ausgeschlossen, dass auch Männer unter diesen Symptomen leiden.

„Bei Frauen kommen diese Symptome aber häufiger vor. Deshalb ist die Abklärung wichtig. Durch Fehldiagnosen werden Frauen nämlich auch später behandelt“, so die Expertin. Die Folgen sind fatal, wie die Daten zeigen: „Frauen haben ein Jahr nach einem Herzinfarkt eine höhere Sterberate als Männer.“

Auch andere Risikofaktoren spielen mit: „Rauchen wirkt sich bei Frauen stärker aus. Bei gleichzeitiger Einnahme der Pille wird das Thromboserisiko extrem gesteigert.“ Sie würden außerdem häufiger unter Gefäßschäden durch Diabetes leiden, höhere Blutfette bleiben ebenfalls oft unentdeckt. Hinzu kommt, dass Mediziner:innen bei Frauen oft ein psychisches Problem vermuten, das hinter der Krankheit steht, oder sogar „Wehleidigkeit“.

Psychische Ursachen

„Frauen werden oft zu stark psychologisiert“, so die Medizinerin. Sie würden sich zwar naturgemäß mehr Sorgen um die Gesundheit machen, aber ihnen werde oft zu schnell unterstellt, emotional zu sein. „Frauen werden im Bezug auf Depressionen und Angststörungen häufig überdiagnostiziert. Bei Männern ist es eher umgekehrt. Depressionen werden oft nicht erkannt, was sich in der höheren Suizidrate bei Männern niederschlägt.“

Tatsächlich sind es aber die Frauen, die laut Untersuchungen häufiger an Depressionen leiden. „Das ist offensichtlich ein multifaktorielles Problem“, weiß die Fachärztin. Einerseits gebe es eine biologisch stärkere Prädisposition, dabei spielen auch genetische Ursachen oder hormonelle Schwankungen als Grund für Depressionen bei Frauen mit – etwa nach der Geburt oder in der Schwangerschaft.

Nicht außer Acht zu lassen sind die Genderrollen und Umweltfaktoren: „Traumatisierende Erlebnisse, Gewalt, schlechterer sozio-ökonomischer Status, Armut oder schwierige Lebenssituationen spielen eine Rolle.“

Medical Gaslighting

Während manche Mediziner:innen diese Faktoren bei der Behandlung von Frauen im Hinterkopf haben, kann das Missverstehen von Symptomen soweit gehen, dass Patientinnen nicht ernst genommen werden. Dabei spricht man vom sogenannten „Medical Gaslighting“ – wie angenommen werden kann, betrifft dies eher weibliche Patientinnen, die von männlichen Ärzten behandelt werden.

Weibliche Patient:innen unterstützen diesen Prozess zu einem Teil durch ihr Verhalten, meint Kautzky-Willer „Sie lassen sich oft sehr verunsichern, überlegen selbst, was die Ursache für ihre Krankheit sein könnte und sind Medikamenten gegenüber eher skeptischer“, so die Medizinerin.

„Die Kommunikation ist besser, wenn Frauen von weiblichen Mediziner:innen behandelt werden. Daten deuten auch auf erfolgreichere Behandlungsergebnisse hin.“ Weibliche Ärztinnen würden sich den Untersuchungen zufolge mehr um ihre Patient:innen sorgen – auch um die männlichen, so Kautzky-Willer. „Sie nehmen sich mehr Zeit und interessieren sich intensiver für das Umfeld der Patient:innen.“

Was kann man gegen den Gender Health Gap tun?

Um dem Gender Health Gap selbst entgegenzuwirken, sei es wichtig, die jährliche Vorsorgeuntersuchung wahrzunehmen, bekräftigt Kautzky-Willer. Sollte man sich nicht ernst genommen fühlen, sei ein Arzt- oder Ärztinnenwechsel hilfreich. „Die Vertrauensbasis und die Arzt-Patienten-Beziehung ist generell sehr wichtig.“

Ein weiterer Tipp: Schildere beim Ärzt:innenbesuch dein Hauptproblem und spreche später über nebensächlichere Symptome. „Es wäre wünschenswert, dass die Politik den Druck auf die Pharmafirmen erhöht, damit sie geschlechtergetrennte Analysen durchführen“, so Kautzky-Willer.

„Weiters wäre die Aufnahme in den Lehrplan an den Unis und ein ausreichendes Weiterbildungsangebot im Bereich der Gendermedizin erforderlich. Nicht zu vergessen ist die Forschungsförderung in diesem Bereich.“

Unterschiede von Frauen und Männern auf einen Blick

  • Frauen sind biologisch im Vorteil und haben ein besseres Immunsystem.
  • Das Östrogen schützt sie bis zu einem gewissen Alter, aber durch hormonelle Umstellungen präsentieren sich gleiche Krankheiten unterschiedlich (zum Beispiel in einer Schwangerschaft oder vor im Vergleich zu nach der Menopause).
  • Alle Organsysteme laufen anders als bei Männern.
  • Frauen haben kleinere Herzen.
  • Mehr Fettgehalt im Körper, das zudem anders verteilt ist.
  • Frauen sind schmerzempfindlicher.
  • Sie spüren Druck auf der Haut und Temperaturen intensiver.
  • Männer haben ein höheres Risiko an Darmkrebs zu erkranken.
  • Rauchen ist für Frauen ein stärkerer Risikofaktor.
  • Lungenkrebs nimmt bei Frauen zu.
  • Die Entgiftung der Leber unterscheidet sich in der Funktion.
  • Auch das Darmmikrobiom ist unterschiedlich.
  • Die Nieren von Frauen funktionieren langsamer.
  • Frauen sind von Auto-Immunerkrankungen und Osteoporose doppelt so häufig betroffen.

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