Gialu und Gazelle im Interview

Gazelle und Gialu über „Never not changing“

Wir bleiben laut

8 Min.

© Sophia Emmerich

Das schwierigste Coming-out? Vor der Familie? Vor Freund:innen? Im Job? – Vor sich selbst, schreiben Gazelle und Gialu. Mehr als zwei Millionen Menschen erreicht das Paar aus Berlin via Social Media, warum und wie sie nun analog hinter die Kulissen blicken lassen.

Gazelle und Gialu im Interview

Fast hätte ich mich zum Interview verspätet, plötzlich juckte es mich in den Fingern, sofort ein kleines Zeichen zu setzen. „Es hilft mir sehr, wenn ich Pronomen in E-Mail-Signaturen, bei offiziellen Präsentationen oder in Video-Calls lese (…). Das normalisiert es, Pronomen zu nennen, und schafft Bewusstsein für das Thema“, schreibt Gazelle im druckfrischen Buch „Never not changing“ – gemeinsam verfasst mit Gialu.

Also noch schnell: E-Mail-Signatur ändern, Pronomen auf Insta ergänzen – ehe ich zwei charismatischen Personen begegnen darf, die aktuell mehr als zwei Millionen Follower:innen auf TikTok und Instagram erreichen. Gazelle (sie/ihr) und Gialu (dey/er) sind trans* bzw. nichtbinär, sie leben also nicht mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugeordnet wurde.

Gazelle blickt auf eine erfolgreiche Laufbahn im Personalwesen zurück und ist heute vorwiegend Content Creator und Comedienne, Gialu ist ebenso Content Creator, Model und Musiker; das Paar lebt in Berlin.

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Instagram. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

Wen möchtet ihr mit eurem Buch erreichen?

Gialu: Alle! Unsere Hoffnung ist, dass „Never not changing“ allgemein Strukturen und Normen überdenken lässt. Es soll Menschen aus unserer Community die Sicherheit geben, dass sie nicht allein sind, dass sie genau richtig sind, wie sie sind, es bietet umgekehrt Berührungspunkte auch für Menschen, die mit dem Thema noch gar keine hatten. Es ist auch ein Buch über Selbstakzeptanz. Ich fand voll schön, was mein Vater, ein cis hetero Mann, gesagt hat: dass er dabei etwas über die queere Lebensrealität lernt und gleichzeitig vieles für sich selbst anwenden kann.

Der Untertitel lautet: 25 erste Male – da sind viele schöne und sehr private Einblicke dabei. Welche Kapitel sind euch schwergefallen?

Gazelle: Für mich war es das erste Kapitel: Coming-out, closing the door behind you. Das ist ein Thema, das ich bis heute nicht hundertprozentig aufgearbeitet habe. Ich habe mich damals von Menschen distanziert, ich musste mir Zeit nehmen, da noch mal reinzufühlen, was das mit mir gemacht hat. Das war ein starker Prozess der Selbstreflexion. Ich schaue mit dem Wissen darauf, das ich heute habe, gleichzeitig sind wir auch noch in unserer Transition.

Gialu: Mir ist das Kapitel mit meiner Familie, wo ich mich distanziert habe, schwergefallen. Mein Geschwister hat vorab gesagt: Gialu, du romantisierst die Situation. Es ist wichtig, dass du sagst, dass du verletzt wurdest. Nur so kann das anderen helfen. Ich habe dann noch mal mit meinen Eltern gesprochen, dass ich das alles schreiben werde. Zum Glück sind wir mittlerweile an einem Punkt, dass sie gesagt haben, dass es gut so ist, dass wir alle daraus gelernt haben. Aber noch tiefer zu gehen, war heftig.

Gazelle, es geht auch nah, wie sehr es dich frustriert hat, einem Klischee-Mann entsprechen zu wollen. Wenn ihr heute zurückblickt: Was hättet ihr euch gerne erspart?

Gialu: Beispielsweise das Narrativ, dass wenn Kinder trans* Personen sehen, sie selber trans werden. Ich hätte mir Aufklärung gewünscht. Dass mir einfach gesagt wird: Hey, guck mal, hier ist die eine Box, die du dein ganzes Leben kanntest, aber schau, hier ist noch eine zweite, dritte und vierte, du kannst dir auch eine eigene Box bauen oder keine Box wollen. Wenn du dich mit den gesellschaftlichen Geschlechterrollen wohlfühlst, auch super, aber es gibt Optionen. Übrigens: Ich habe mein ganzes Leben cis hetero monogame Pärchen gesehen und bin es auch nicht geworden (lacht).

Gazelle: Eine Hypermaskulinisierung, die ich durchlebt habe, – und umgekehrt eine Hyperfeminisierung – kann bei trans* Personen öfter vorkommen. Man geht krass in eine Richtung, um sich und der Gesellschaft etwas zu beweisen, bis man darin zusammenbricht. Aber ich kann heute positiv darauf blicken. Ich habe versucht, mich gesellschaftskonform zu geben, das hat mich eingeschlossen, heute weiß ich umso besser, wie sich das anfühlt, frei zu leben, wie ich bin.

Gialu: Das ist ein bisschen schwierig, weil du keine anderen Optionen hattest.

Gazelle: Stimmt, ich wusste es nicht besser.

Wie definiert ihr den Begriff Transition?

Gialu: Never not changing (Buchtitel, Anm.) – wir sind immer in Veränderung. Jede trans* Person kann das für sich unterschiedlich definieren. Manche sagen, wenn ich die geschlechtsangleichenden Operationen gemacht habe und auf Hormone bin, ist meine Transition „fertig“. Für mich sind es unterschiedliche Steps: Sei es, dass ich meine Haare abgeschnitten, meinen Namen verändert, meine Pronomen angepasst habe. Transition bedeutet für mich: Mein Leben lang herauszufinden, wie ich mich in meinem Körper am wohlsten fühle und wo ich hin möchte. Am 3. Februar beantragen wir unseren neuen Reisepass!

Wie schafft man für trans* Personen eine angenehme Umgebung im Job bzw. im Alltag?

Gazelle: Zuhören, Verständnis gewinnen, sich informieren. Genau das half mir: wenn Kolleg:innen offen waren, Fragen gestellt haben. Die waren nicht immer alle mit Fingerspitzengefühl, aber ich konnte es verstehen, weil es für die Person jeweils neu war. Offenheit ist der Grundbaustein. Es gab kein „können wir nicht machen, das war immer schon so“. Wenn beispielsweise neutrale Toiletten gebraucht werden, ist „wir haben nur die drei“ keine richtige Antwort. Mir hat sehr geholfen, dass mein Arbeitgeber gesagt hat: Wir schauen uns das gemeinsam an und finden eine Lösung. Eine der drei Toiletten könnte zum Beispiel genderneutral werden.

Wie sieht für euch die ideale Erziehung aus, damit sich Kids frei entwickeln können?

Gialu: Ein wichtiger Gedanke: Du kannst dein Kind nicht verändern, Queerness ist keine Entscheidung. Es gibt diesen Spruch: Sei nicht der erste Mobber deines Kindes, sondern der erste Zufluchtsort. Es ist wichtig zu sagen: Ich liebe dich, egal wie du bist, ich bin für dich da, wir können über alles sprechen, ich verurteile dich nicht.

Gazelle: Ich höre ständig: Ich hab‘ meinem Kind Puppen und Bauspielzeuge hingelegt, und in der Schule war doch für die Jungs alles blau, alles total Klischee. Darauf kann man nicht unbedingt Einfluss nehmen, das hat etwas mit Strukturen zu tun. Man kann aber an sich arbeiten, sich informieren und empathisch und sensibel reagieren, wenn es darauf ankommt.

Gialu: Wir leben in einer Gesellschaft, die so genderbasierend ist, Kinder können nicht abseits davon erzogen werden, aber wenn ein Kind einen Kurzhaarschnitt möchte, kann man fragen, warum und nicht direkt sagen: Nein, mach das nicht, deine schönen Haare. Viele beharren darauf, dass es nur zwei Geschlechter gibt. Wie geht es euch damit?

Gialu: Wir haben gestern die Netflix-Doku „Eldorado“ gesehen, in der es auch darum geht, wie Queerness nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin gelebt wurde, wie „aufgelockert“ da einiges schon war. Es gab die ersten geschlechtsangleichenden Operationen, dann kam die Nazizeit, Bücher aus der Forschung wurden verbrannt, alles dazu ausradiert. Das war vor 100 Jahren, krass, wie wir rückwärts gegangen sind. Was bedeutet biologisches Geschlecht überhaupt? Es gibt auch cis Frauen, die ohne Uterus geboren sind und solche, die ein X- und ein Y-Chromosom haben. Das Geschlecht ist vor allem ein soziales Konstrukt. Wir können nichts Unendliches wahrnehmen, ich kann verstehen, dass sich dieses Bild von binären Geschlechtern etabliert hat, aber es engt letztendlich fast alle ein, weil wir da alle reinpassen „müssen“, um akzeptiert zu werden. Es gibt Videos, die davon handeln, wann ein Mann Mann genug ist – ist er ein richtiger Mann, wenn er lange Haare hat? Ich streite nicht ab, mit welchen biologischen Merkmalen ich auf die Welt gekommen bin. Aber ich habe die Möglichkeit, mich in meinem Körper wohlzufühlen, warum darf ich die nicht nutzen, wenn es mir damit besser geht?

Gazelle: Zu Beginn meiner Transition wollte ich viel nachholen: Ich trug Kleider, mehr Make-up, pinke Schuhe. Dann kam: Warum müssen trans Frauen immer diese Frauenklischees reproduzieren? Im nächsten Video sitze ich im Kapuzenpulli, da hieß es dann: Warum gibt sich Gazelle keine Mühe mehr, wie eine Frau auszusehen? Die Menschen wollen, dass man entweder Frau oder Mann ist, wissen aber gar nicht, was das heißt. Alles dazwischen irritiert die Menschen, dabei ist alles dazwischen immer da auf der Welt.

Macht ihr euch Sorgen, welchen Einfluss aktuelle politische Veränderungen auf euer Leben haben werden?

Gialu und Gazelle: Ja, auf jeden Fall.

Gazelle: Wir haben bei der Doku gesehen: Die Parallelen sind beängstigend. Was hilft, ist die Hoffnung, dass wir viele Schritte weiter sind als vor 100 Jahren. Es gibt mehr Rechte für uns, wir können offener leben, wir können uns im Internet frei zeigen, können durch die Straße gehen und uns die Hand halten. Aber die Angst ist da.

Gialu: Die Doku zeigt auch, wie schnell das kippen kann. Darum ist es so wichtig, sich zu vergegenwärtigen: Es gibt Menschen in anderen Ländern, aber auch bei uns, für die das Leben jetzt schon gefährlich ist. Der Zusammenhalt ist wichtig, wir dürfen nicht zuwarten, bis es uns auch nicht mehr gut geht. Wir müssen an einer Gesellschaft arbeiten, in der alle akzeptiert werden, so wie sie sind.

Gazelle: Ich wünsche mir eine starke internationale Solidarität gegen das, was uns in Gefahr bringt. Ich hoffe, dass wenn wir weiterhin unsere Geschichten erzählen, wir alle gemeinsam dagegen laut bleiben oder laut werden.

Abo

Die NEUE WIENERIN

×