Dokumentarfilm Favoriten

Schule als Zukunftswerkstatt: „Favoriten“ und die Vision einer gerechten Bildung

Wo alles beginnt

9 Min.

© Ruth Beckermann Filmproduktion, Filmladen Verleih

Wie wäre die Welt, wenn Kinder ungeachtet ihrer Herkunft und ihres Geschlechts ihre Träume verwirklichen könnten? Ruth Beckermann präsentiert mit „Favoriten“ einen Dokumentarfilm, der in seinen Farben und Aussagen so kraftvoll ist, wie sein Plakat.

Sie halten stolz ihre Zeichnungen in die Kamera, träumen von einer Zukunft als Wissenschaftler:in, Polizist:in, Astronaut:in oder Lehrer:in. Filmemacherin Ruth Beckermann, ihr Team, die Volksschullehrerin Ilkay Idiskut – und vor allem ihre Schüler:innen schenken dem Publikum ein Kinoerlebnis, das den Blick dafür schärft, wo eine bessere Welt anfangen kann.

Kann sie das, wenn Kinder auf Grund von Einsparungen und eingerosteter Systeme später in Sackgassen geraten? Wie viel wertvolles Potenzial verschwenden wir, wenn sich junge Menschen nicht frei entfalten können?
Ruth Beckermann begleitete drei Jahre lang eine Volksschulklasse in Favoriten, in der kein Kind Deutsch als Muttersprache hat. Den Titel bekam der Film aber weniger, um ihn geografisch zu verorten, „sondern vielmehr, weil die Kinder unsere Favoriten sind“, betont sie.

Der Film öffnet das Herz. Er zeigt eine Lehrerin, die alles und noch mehr gibt, um das Beste aus den Kindern herauszuholen, die ehrlich ist, sie ernst nimmt und sie auch mal mit Schmäh hinterfragt. Und vor allem zeigt „Favoriten“ Kinder, die das Beste geben wollen, die neugierig sind und fähig, ihr Handeln und ihre Meinung zu überdenken, wenn sie dabei unterstützt werden. Bei der Berlinale erhielt „Favoriten“ den Friedensfilmpreis; Kinostart in Österreich ist am 19. September.

Dokumentarfilm Favoriten
© Ruth Beckermann Filmproduktion, Filmladen Verleih

Wie kamen Sie auf die Idee, diese Dokumentation zu machen und wie ist sie entstanden?

Ruth Beckermann: Ich habe mich mit meiner Freundin Elisabeth Menasse – sie war lange Direktorin des ZOOM Kindermuseums – darüber unterhalten, dass es interessant wäre, das Schulsystem aus der Nähe anzuschauen. Und zwar in einer Volksschule, weil in diesem Alter wichtige Grundsteine gelegt werden. Im Frühjahr 2020 haben wir begonnen, nach einer Volksschule zu suchen, die typisch für europäische Schulen ist, also nicht gerade im ersten Bezirk.

Wir haben uns fünf angeschaut, die Volksschule in Favoriten, für die wir uns entschieden haben, ist die größte Wiens. Der Direktor fand das Projekt gleich toll und hat uns ein paar Lehrkräfte vorgeschlagen. Wir haben uns in unterschiedliche Klassen gesetzt und kamen zu Ilkay: Sie hatte gerade eine erste Klasse; ihre Ausstrahlung, ihre Energie und die Kinder, die so lustig und aufmerksam waren, haben uns sofort fasziniert. Im Herbst darauf haben wir bei ihr zu drehen begonnen.

Wie haben Sie das erlebt?

Ilkay Idiskut: Ich war vor Jahren auch in einer „Willkommensklasse“ in Berlin (für Kinder ohne Deutschkenntnisse, Anm.); Projekte, bei denen ich andere oder eben beim Film mich selbst im Nachhinein beobachten kann, finde ich sehr spannend. Ich wusste anfangs nur nicht, dass ausschließlich in meiner Klasse gefilmt wird (lacht). Es war auf jeden Fall ein Erlebnis – für mich und meine Schülerinnen und Schüler. Wo sonst hätten sie ein so tolles Filmteam kennengelernt? Schließlich ist dabei sogar eine Freundschaft entstanden.

Ruth Beckermann: Ja, das kann man wirklich sagen. Wir haben uns viel ausgetauscht und auch immer gefragt, welche Themen und Ausgänge anstehen, damit wir planen konnten, wann wir unbedingt drehen wollen – wie beispielsweise in der Moschee und in der Kirche.

Kinder sind lernbegierig, das sieht man auch im Film. Warum werden sie nicht mehr gefördert?

Ruth Beckermann, Filmemacherin
Ruth Beckermann
© Vandehart Photography

Die Kinder lernen, streiten, lachen, tanzen – konnten sie leicht vergessen, dass vier zusätzliche Personen in der Klasse waren?

Ruth Beckermann: In den ersten Tagen waren sie vor allem an der Technik interessiert; eine Kamera kannten sie, aber die Tonangel mit dem Fell darauf (Mikrofon, Anm.) fanden sie sehr spannend. Unser Kameramann Johannes Hammel und unser Toningenieur Andreas Hamza haben ihnen alles erklärt.
Ilkay Idiskut: Kinder können viel um sich herum vergessen. Schon beim zweiten Mal haben sie nicht darauf geachtet, dass sie gefilmt werden.
Ruth Beckermann: Die Volksschule ist auch deswegen ein gutes Alter für so ein Projekt, in der Pubertät sind Kinder schon medienbewusster. Elisabeth (Menasse, Anm.) und ich sind immer im Eckerl gesessen, um nicht zu stören, für Kamera und Ton war es eine Herausforderung, sich durch die kleine Klasse durchzuarbeiten. Noch dazu war es wichtig, auf der Höhe der Kinder zu sein, und sie nicht von oben runterzufilmen.

Sie haben einen wunderbaren Schmäh mit den Kindern – und viel Geduld, gerade in Konfliktsituationen. Wie gelingt Ihnen das?

Ilkay Idiskut: Das braucht Erfahrung. Man lernt mit der Zeit, dass man sich auf Konflikte einlassen, sie besprechen muss, sonst bleiben sie in der Luft hängen. Selbst wenn eine Unterrichtsstunde darunter leiden muss, gehört das dazu, weil die Kinder in dem Alter lernen sollten, über Konflikte zu reden. Je mehr ich sie dafür wappnen kann, desto sicherer werden sie sich fühlen; sie sollen keine Angst haben, Dinge anzusprechen. So habe ich auch die Möglichkeit, sie in manchen Themen umzustimmen.

Ruth Beckermann: Das Tolle an Ilkay ist, dass sie authentisch ist, die anderen respektiert, bei ihrer Ansicht bleibt, aber eben keine Angst vor Konflikten hat. Ich habe Lehrkräfte erlebt, die einfach darüber hinweggehen, gerade wenn es um andere Kulturen geht. Das ist aber falsch, wir sind alle Menschen, man kann über alles reden.

Eine Klasse, in der Sie keine Kinder mit deutscher Muttersprache hatten: Welche Bedeutung hat das für Sie?

Ilkay Idiskut: Das ist sehr schön, wenn viele Kulturen und Sprachen aufeinandertreffen; die Kinder können sehr viel voneinander lernen. Aber sie ziehen leider den Kürzeren, weil sie nicht so viel Deutsch miteinander sprechen. Es muss eine Veränderung passieren, es braucht jedenfalls Unterstützung für solche Klassen, damit die Kinder nicht auf der Strecke bleiben. Sie brauchen ein gutes Deutsch, um dem Unterricht überhaupt folgen zu können, andernfalls fehlen ihnen Grundbausteine. Das zu erleben, tut weh.

Ruth Beckermann: Das ist ein Totalversagen unseres Bildungssystems seit vielen Jahren. Es war sowohl abzusehen, dass Menschen mit Migrationshintergrund mehr werden, als auch, dass viele Lehrkräfte in Pension gehen. Es wurde nicht beziehungsweise nicht angemessen reagiert. Meiner Meinung nach muss es – wie in vielen anderen Ländern – eine Vorschule geben, in der die Kinder schon mit drei, vier Jahren die Sprache lernen. Ein verpflichtendes Kindergartenjahr im gleichen Bezirk, im gleichen sprachlichen Milieu bringt nichts.

Es gibt bei uns noch immer die Mentalität, wonach Frauen am Herd und Kinder möglichst lange Kinder bleiben sollen. Was soll das überhaupt heißen? Jeder, der Kinder hat, weiß, wie lernbegierig Kinder sind. Das sieht man auch im Film und fragt sich: Warum werden sie nicht mehr gefördert? Politiker:innen haben mit dem Film die Möglichkeit, zwei Stunden konzentriert eine Schulklasse zu erleben. Dann sollen sie darüber nachdenken, was sie verändern können; ich hoffe, dass wir zur Diskussion beitragen.

Kinder brauchen ein gutes Deutsch, sonst fehlen ihnen Grundbausteine. Das zu erleben, tut weh.

Ilkay Idiskut, Volksschullehrerin
Dokumentarfilm Favoriten
© Vandehart Photography

Sehr bewegend finde ich die Szene um die große Entscheidung in der vierten Klasse …

Ruth Beckermann: Ich bin auf jeden Fall dagegen, dass Kinder mit zehn Jahren getrennt werden. Das gibt es auch kaum anderswo als in Deutschland und bei uns. Ich habe den Wechsel ins Gymnasium selbst schrecklich in Erinnerung. Heute haben die Kinder schon in der vierten Klasse totalen Stress.

Ilkay Idiskut: Man spürt richtig den Druck der Eltern, dass das Kind ins Gymnasium soll, obwohl die Mittelschulen pädagogisch sehr wertvoll sind. Viele Kinder empfinden es als Weltuntergang, wenn sie nicht ins Gymnasium können. Sie fühlen sich als „nicht gut genug“ abgestempelt, das traumatisiert sie schon mit zehn Jahren. Noch dazu sind da viele Flüchtlingskinder dabei, die ohnehin schon traumatisiert sind. Wäre diese Trennung nicht, könnten sich Kinder auch gegenseitig unterstützen.

Ruth Beckermann: Man muss schon früher auch die Bezirke durchmischen. Deutschsprachige bürgerliche Eltern werden dagegen sein, dass ihre Kinder in Favoriten in die Volksschule gehen, aber da müsste der Staat dagegenhalten. Interessant finde ich den Vorschlag, wonach Eltern fünf Wunschschulen nennen könnten, aber die Entscheidung sollte die Stadt oder der Staat treffen, wohin das Kind kommt.

Was bedeutet für Sie Integration?

Ruth Beckermann: Dass jede:r so lebt, wie er oder sie will, aber es viele gemeinsame Regeln und universalistische humanistische Werte gibt, die alle akzeptieren müssen. Es geht um einen Überbau, der eine Gesellschaft zusammenhält.

Ilkay Idiskut: Es heißt nicht, dass man auf seine Vergangenheit, seine Identität, seine Sprache verzichten muss. Integration heißt, sich ein wenig anzupassen, einander auf beiden Seiten zu respektieren – und die Sprache zu können, damit wir miteinander kommunizieren können.

Ruth Beckermann: … und mündige Bürger:innen sein können, um wählen zu gehen oder sich irgendwo, beispielsweise in einem Verein oder bei der Gestaltung eines Bezirks, engagieren zu können. Es geht nicht darum, dass alle um den gleichen Maibaum tanzen.

Ilkay Idiskut: Das wäre auch sowas von uninteressant, wenn alle gleich ausschauen und sich gleich verhalten würden (lacht).

Der Film feierte bei der Berlinale seine Weltpremiere, bei der Diagonale in Graz war er der Eröffnungsfilm. Wie sind die Reaktionen?

Ruth Beckermann: In Graz war es besonders schön: mit 1.200 Menschen in der Helmut-List-Halle und es gab Standing Ovations. Der Film reist bereits um die Welt: Er war unter anderem schon in Hongkong, Mexico City, Buenos Aires, Ankara und Tel Aviv, ist in rund 15 Ländern verkauft worden und wird auch in den Kinos kommen. Jetzt freuen wir uns auf die Premiere im Herbst in Wien, wenn auch die Kinder und ihre Eltern das erste Mal den Film sehen werden.

Dokumentarfilm Favoriten
Mit dem Friedensfilmpreis ausgezeichnet. Ruth Beckermanns „Favoriten“ startet am 19. September in den heimischen Kinos.
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