Raus aus der Bildungskrise

Schulen in der Krise: Wie kommen wir da wieder raus?

Die Bildungsforscherin Christiane Spiel im Interview

7 Min.

© pexels/Mikhail Nilov

„Schule nach Amok-Drohung evakuiert.“ Beunruhigende Schlagzeilen über Gewalt und bedrohliche Vorfälle in Klassenzimmern sind in den Medien präsenter denn je. Sie markieren die Spitze des Eisbergs in einer Bildungslandschaft, die von Ungleichheiten geprägt ist.

Das österreichische Schulsystem steht vor großen Herausforderungen. Im Land der vererbten Bildung hängen die Bildungschancen, im Vergleich zu anderen Industrienationen, stark von familiären Hintergründen ab. Nur etwa sieben Prozent der Kinder, deren Eltern maximal einen Pflichtschulabschluss haben, gelingt es, einen akademischen Abschluss zu erreichen.

Der Lehrermangel verschärft die Situation zusätzlich. Die Ursachen dafür liegen nicht nur in der mangelnden Attraktivität des Lehrerberufs, sondern auch in politischen Entscheidungen, welche die Ausbildung und Arbeitsbedingungen beeinflusst haben. Reformen, die vor Jahren als Lösungen gefeiert wurden, haben sich als unzureichend erwiesen, während die Zahl der Lehrkräfte, die in den Ruhestand gehen, stetig steigt.

Die Wiener Bildungsforscherin Christiane Spiel im Interview über drängende Probleme im Schulsystem und wie eine zukunftsorientierte Anpassung gelingen kann.

Bildungsforscherin Christiane Spiel
© Gerhard Schmolke

drängende Probleme im Schulsystem

Das dreiteilige Schulsystem gibt es, grob gesagt, seit es Maria Theresia 1774 reformierte. Ist das heutige Schulsystem überholt?

Christiane Spiel: Die Bildungspolitik arbeitet sehr wohl daran, das Schulsystem an die Herausforderungen, mit denen junge Menschen heute konfrontiert sind, anzupassen. Aber das geht nur sehr langsam, da das System sehr träge ist. Außerdem dauert es im Bildungsbereich auch besonders lange, bis Maßnahmen Wirkung zeigen, länger als eine Legislaturperiode. Da der Bildungsbereich, insbesondere die Schule, stark ideologisch überfrachtet ist, besteht die Gefahr, dass neue Minister:innen bei Regierungswechsel alles wieder umdreht.

Was macht Ihnen, wenn Sie sich unser Bildungssystem ansehen, aktuell am meisten Sorgen?

Am meisten macht mir Sorgen, ob wir, ob das Bildungssystem es schafft, junge Menschen gut genug auf die Welt von morgen vorzubereiten. Die Welt von heute ist schon komplex genug, mit vielen Herausforderungen und Problemen. Es ist nicht zu erwarten, dass es künftig einfacher und leichter sein wird. Es ist wichtig, dass junge Menschen in der Lage sind, auf diese Herausforderungen nicht nur zu reagieren, sondern sich ihnen aktiv zu stellen und Probleme zu lösen.

Wir haben in Österreich zu viele Kinder, die am Ende der Pflichtschule nicht sinnverstehend lesen können.

Univ.-Prof. Dr. Dr. Christiane Spiel, Bildungsforscherin

Gibt es erfolgreiche Modelle aus anderen Ländern, die in Österreich als Inspiration dienen könnten? Würden Konzepte wie beispielsweise eine Gesamtschule helfen?

In den anglo-amerikanischen und den nordischen Ländern geht man sachlicher und nicht so ideologisch mit Fragen und Maßnahmen im Bildungsbereich um. Daher werden Forschungsergebnisse auch mehr berücksichtigt. Eine Gesamtschule würde sicherlich einen sehr bedeutsamen Beitrag zu mehr Fairness im Bildungsbereich leisten. Voraussetzung ist jedoch, dass sie eine hohe Qualität hat.

Eine Gesamtschule mit hoher Qualität flächendeckend, sprich in ganz Österreich umzusetzen, dauert sehr lange und ist schwierig. Was es in jedem Fall als Voraussetzung braucht, ist eine allgemeine Akzeptanz. Davon sind wir derzeit weit entfernt.

Der Lehrermangel ist ein zentrales Thema. Quereinsteiger:innen werden verstärkt eingesetzt. Welche Chancen und Risiken sehen Sie in dieser Strategie?

Die derzeitigen Entwicklungen in der Ausbildung von Lehrpersonen gehen leider in die Richtung einer Entprofessionalisierung. Grundsätzlich ist es sinnvoll, dass die Schule sich mehr öffnet und damit auch mehr in der Gesellschaft ankommt.

Aber wie motivieren Quereinsteiger:innen, die viele Jahre zum Beispiel in technischen Berufen gearbeitet haben, Jugendliche in der Pubertät für Mathematik? Die psychologisch-pädagogischen Grundlagen dafür und die Fachdidaktik fehlen. Im Medizinbereich würde man so etwas nie machen, bei einem Mangel an Ärzt:innen Quereinsteiger:innen einsetzen oder die Studienzeit verkürzen.

Schulen in der Krise
© pexels/Karolina Grabowska

Multiple Krisen bei Schüler:innen lassen Rufe nach mehr Unterstützungspersonal laut werden. Wie wichtig ist es, dass zusätzliches Personal in den Schulen eingesetzt wird?

Unterstützung sowohl administrativ als auch durch Schulpsychologie und Schulsozialarbeit ist höchst wichtig. In Österreich wurde das bisher sehr vernachlässigt. Lehrpersonen werden dadurch entlastet und können sich auf ihre zentrale Aufgabe konzentrieren – Schüler:innen Wissen und Kompetenzen zu vermitteln und sie zu fördern. Auch für Schüler:innen ist zusätzliches Personal hilfreich. Wenn sie Unterstützung brauchen, erhalten sie diese von Professionist:innen.

Schulen in der Krise: Das muss sich ändern

Der Lernerfolg ist oft davon abhängig, ob Eltern Zeit, Bildung oder Geld haben, um den Nachwuchs zu unterstützen. Wie können diese Ungleichheiten reduziert und sichergestellt werden, dass Bildung für alle zugänglich ist?

Wie man Bildungsfairness fördern kann, wissen wir schon lange: Ausbau des Elementarbereichs, Ausbau der Ganztagsschulen, Einführung des Chancenindexes – Schulen bekommen Geldmittel in Abhängigkeit von Bildungs- und Migrationshintergrund – und eine gezielte Förderung der Grundkompetenzen in der Volksschule. Wir haben in Österreich zu viele Kinder, die am Ende der Pflichtschule nicht sinnverstehend lesen können.

Junge Menschen müssen in der Zukunft mit Veränderungen umgehen können, Selbstvertrauen und Mut haben, selbstorganisiert lernen und arbeiten können.

Univ.-Prof. Dr. Dr. Christiane Spiel, Bildungsforscherin

Die Integration in multikulturellen Schulen ist ein wichtiger Aspekt, den Sie erforscht haben. Wie können Schulen die Vielfalt fördern und eine inklusive Umgebung schaffen, insbesondere in Zeiten, in denen kulturelle Unterschiede oft zu Konflikten führen?

Besonders wichtig ist wechselseitiger Respekt, klare Regeln und hohe Wertschätzung. Das Verständnis für andere wird durch Aktivitäten gefördert, die einen Einblick in die anderen Kulturen geben, zum Beispiel ein Brunch, wo jedes Kind Essen aus seiner Heimat mitbringt. Auch Rollenspiele, in denen man sich in Kinder oder Jugendliche aus anderen Kulturen versetzt, fördern wechselseitiges Verständnis.

Schüler:innen geraten immer häufiger in die Schlagzeilen. In den Medien liest man von Amokläufen, Mobbing und steigender Gewaltbereitschaft. Warum ist das so? Wie könnte man präventiv eingreifen, um solchen negativen Entwicklungen entgegenzuwirken?

Mobbing und Gewalt gab es schon immer. Allerdings stellt die zunehmende Heterogenität der Schüler:innen eine weitere Herausforderung dar. Um nachhaltig dagegen zu wirken bedarf es Präventionsprogramme, an denen sich die ganze Schule beteiligt. Viele Studien belegen die Reduktion von Gewalt durch solche Programme. Auch unser Programm hatte eine sehr positive Wirkung. Alle Lehrpersonen müssen hinter den Programmen stehen und in gleicher Weise auf Gewalt reagieren.

Die Botschaft lautet: „Wir dulden keine Gewalt in unserer Schule.“ Auf Klassenebene sollten die Schüler:innen in Rollenspielen erfahren, was es bedeutet Opfer zu sein. Wichtig ist es auch, dass die nicht involvierten Schüler:innen erfahren, dass sie nicht unbeteiligt sind. Denn wenn sie nicht eingreifen, unterstützen sie die Täter. Sie müssen lernen, wie sie Gewalt stoppen können. Dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie auch als Erwachsene Zivilcourage zeigen.

Schulen in der Krise
© pexels/Nicole Berro

Spürt man die Pandemie in der Schule noch? Hat sie Nachwirkungen auf die Kinder und Jugendlichen?

Es ist davon auszugehen, dass es jetzt, aber auch noch für eine längere Zeit, Nachwirkungen gibt. Jedoch betrifft das nicht alle Schüler:innen in gleicher Weise. Viele haben durch die Pandemie auch neue Kompetenzen erworben wie selbst-organisiertes Lernen, digitale Kompetenzen und sind auch resilient geworden. Wichtig ist jedoch, dass diejenigen, bei denen es Nachwirkungen gibt, individuelle Unterstützung erhalten.

Welche Fähigkeiten und Kompetenzen sind Ihrer Meinung nach besonders wichtig, um Schüler:innen auf die Anforderungen einer sich schnell verändernden Zukunft vorzubereiten?

Junge Menschen müssen in der Zukunft mit Veränderungen umgehen können, Selbstvertrauen und Mut haben, selbst-organisiert lernen und arbeiten können, soziale Kompetenzen haben, damit sie in Teams Problemstellungen bearbeiten können und vieles mehr.

Zusätzlich zu den Basiskompetenzen, wie zum Beispiel sinnverstehendes Lesen, sollte es eine individuelle Vertiefung in den Bereichen geben, in denen die Schüler:innen Begabungen und Interessen haben. Da lernt man lieber und ist erfolgreicher. Und wenn jede:r etwas anderes einbringt, ist es auch leichter mit Herausforderungen umzugehen.

Angesichts der aktuellen Herausforderungen im Schulsystem, wie könnte langfristig eine Anpassung oder Reform aussehen, um effektiv mit Problemen wie dem Lehrermangel, der steigenden Anzahl von Schülerkrisen und anderen Herausforderungen umzugehen?

Das geht nicht von heute auf morgen. Aber wir sollten schauen, wie es andere Länder machen, z.B. Finnland. Dort ist der Lehrberuf so attraktiv, dass sich weit mehr Maturant:innen dafür bewerben als es Ausbildungsplätze gibt. Der Lehrberuf ist in der Gesellschaft hoch angesehen. In den Schulen gibt es Unterstützungspersonal und Autonomie. Die Bildungspolitik und die Bildungsverwaltung vertrauen den Schulleitungen und den Lehrpersonen und umgekehrt.

DAS KÖNNTE DICH AUCH INTERESSIEREN

Abo

Die NEUE WIENERIN