Gynäkologische Praxis

Wenn Angst viral geht: Gynäkologie zwischen Scham und Mythos

Zwischen den Stühlen

8 Min.

© Pexels/Mart Production

Gynäkologische Untersuchungen sind eine intime Angelegenheit. Gerade junge Frauen scheuen sich davor, viele werden auf sozialen Medien verängstigt – ebenso wie transgender Personen, die neben Scham auch noch mit Sorge vor Diskriminierung kämpfen. Wir haben mit Betroffenen und Dr. Denise Tiringer, ärztliche Leiterin und Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe beim Santé Femme Institut für Frauengesundheit in Wien, über diese Ängste gesprochen.

Angst vor der Gynäkologie

„Nope. Ich geh niemals hin. Never.“ Dieser Kommentar unter einem TikTok-Video einer deutschen Gynäkologin verzeichnet über zweitausend Likes. Darunter eine besänftigende Antwort: „So schlimm ist es nicht, vertrau mir. Es ist wirklich sehr wichtig!“ Gerade mal 277 Likes.

Im englischsprachigen Diskurs nehmen diese Zahlen ganz andere Ausmaße an: „Ich möchte keinen PAP-Abstrich machen“, ist unter einem Aufklärungsvideo zu lesen, über 110.000 Menschen stimmen zu. Ebenfalls beliebte Kommentare: „Meine größte Angst“, „Es tut höllisch weh“. Andere Kommentare knüpfen direkt an tief verankerte Mythen an, zum Beispiel, dass das Jungfernhäutchen wie die Folie auf einem Nutellaglas agiere und man dementsprechend als Jungfrau keine Untersuchung machen könne.

Das erzeugt insbesondere bei den vielen jungen Mädchen und Frauen Angst, die in der TikTok-Kommentarspalte nach Antworten suchen. Unter einem Video findet man etwa die Frage, ob sie mit 13 auch untersucht werden müsse, da sie große Angst davor habe. Über 860 Likes. Eine Userin fragt unter einem anderen Video sogar, ob man sich sedieren lassen kann, um den Abstrich nicht zu spüren. Doch auch erwachsene Frauen mischen mit, so etwa eine Frau, die stolz zugibt: „Ich bin jetzt 44 und kann gut ohne diesen Facharzt leben.“
Solche Beiträge sind keine Ausnahme, sondern Standard. Dutzende Frauen, die sich gegenseitig in ihren Ängsten bestärken, darunter vereinzelte Stimmen, die anderen die Angst nehmen wollen. Doch sie gehen in der Masse an angstschürenden Worten unter.

Laute Stimmen

Negative Erfahrungen verbreiten sich im Netz nicht nur schneller – sie sind auch viel einprägsamer. Niemand erzählt, wie unaufregend oder gemütlich der letzte Arzttermin war. Aber wenn die Wurzelbehandlung beim Zahnarzt schreckliche Schmerzen bereitet hat, wird daraus der perfekte Grusel-Content. Angst wird dabei zum Entertainment: Wer erzählt die schlimmste Story? Wer hatte das schmerzhafteste Erlebnis? Wir lieben doch alle das Drama. Und wer einmal drin ist, kommt so schnell nicht mehr raus. Wie viele Gyn-Videos ich nach dieser Recherche noch sehen werde, steht bislang in den Sternen, ich vermute allerdings zu viele. Einmal im Algorithmus gefangen, bekommt man nämlich endlos neuen angstschürenden Content angezeigt. Besonders junge Menschen, die online nach Antworten suchen, geraten so in eine gefährliche Negativspirale. Anstatt Aufklärung gibt’s Panik, Mythen und Missverständnisse.

Erstes Mal in der Gynäkologie

Mit 14 Jahren saß ich zum ersten Mal auf dem berühmt-berüchtigten Gyn-Stuhl. Und hier endet meine Geschichte auch schon: Es war nämlich anscheinend so unspektakulär, dass ich mich nicht mal dran erinnern kann. Nur, dass ich dort war, weil meine Mutter sich darum gekümmert hat.

Doch nicht alle Mütter schleppen ihre Tochter zum: zur Gynäkolog:in. Und so kommt es vor, dass manche jungen Frauen auch mit Anfang 20 noch nie am Stuhl gesessen sind. Theresa ist eine von ihnen. „Das Thema ist mit meiner Mama aufgekommen, aber es gab nie ein ausführliches Gespräch darüber. Beziehungsweise ist es mir nicht so wichtig vorgekommen.“

Aufgrund ihrer Hypochondrie ist es für sie generell eine große Überwindung, Ärzt:innen zu besuchen. „Mittlerweile hätte ich, glaub ich, keine Angst, aber ich habe diese Health Anxiety, dass eventuell doch was sein könnte.“

Auch mit dem richtigen Zeitpunkt ist sie sich bislang unsicher. Denn je länger man mit ersten Malen wartet, desto größer und bedeutender wirken sie. Deshalb rät Dr. Tiringer dazu, schon als Mädchen ohne Beschwerden eine gynäkologische Praxis aufzusuchen. „Um das Schamgefühl sehr junger Mädchen zu respektieren, kann auf die Inspektion des Genitals und gynäkologische Untersuchung bei Beschwerdefreiheit verzichtet bzw. diese auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden.“ So wird der Besuch zur Routine anstatt zum Albtraum.

Richtiges Timing

Einen fixen Zeitrahmen für den ersten Termin gibt es jedoch nicht. Laut dem Frauengesundheitsbericht 2022 waren die Befragten beim ersten Besuch durchschnittlich 15 Jahre alt, 2014 lag das Durchschnittsalter noch bei 13 Jahren. Mehr als ein Drittel der 14- bis 17-Jährigen hat noch nie eine gynäkologische Praxis aufgesucht, diese Zahl verringert sich bei den 18- bis 25-Jährigen auf vier Prozent.

„Der Besuch sollte unabhängig vom Alter dann passieren, wenn Beschwerden oder Fragen vorliegen oder sobald man sexuell aktiv ist. Spätestens ab dem 20. Lebensjahr sollte eine Krebsvorsorgeuntersuchung allerdings jährlich stattfinden“, so Dr. Tiringer. Gerade das Stichwort „Vorsorge“ ist unheimlich wichtig. Egal ob Krebs, HPV, Zysten, Endometriose oder sonstiges; regelmäßige Untersuchungen können Leben retten oder zumindest erleichtern.

Scham & Vorurteil

Dabei spielen auch Einkommen, Bildung und Migrationshintergrund eine große Rolle: Je niedriger der soziale Status, desto niedriger die Teilnahmehäufigkeit an PAP-Abstrichen. Auch das soziale Geschlecht kann zum Hindernis werden, insbesondere Transmännern wird der Zugang zur gynäkologischen und reproduktiven Versorgung erschwert. Grund dafür ist die heteronormative Ausrichtung der Gynäkologie, die transgender Personen oftmals dazu zwingt, sich binär einzuordnen. Gerade wenn eine Genderdysphorie vorliegt und der Körper nicht dem Geist entspricht, kann es schwierig sein, geschlechtsspezifische Dienste in Anspruch zu nehmen. Welcher Mann möchte schon zu einem Frauenarzt oder einer Frauenärztin gehen?

Dieses Gefühl kennt Jakob gut: Der 22-Jährige befindet sich mitten in seiner Transition zum Mann und hat noch nie eine gynäkologische Praxis besucht. Vor allem seit seiner Hormontherapie hat er Sorge, er könne dort Transphobie erleben. „Die Vorstellung, ein:e professionelle:r Ärzt:in könnte mit Hass oder Ekel reagieren, schreckt extrem ab.“ Auch seine Selbstwahrnehmung erschwert den Besuch. „Meine Genitalien sind im Alltag kein Fokus. Aber natürlich, wenn ich dort hingehe, wird’s einem direkt bewusst. Der Gedanke ist schon sehr einschüchternd und unangenehm. Irgendwie wie ein Schlag ins Gesicht.“

Meist hört er aus den sozialen Medien Horrorgeschichten von anderen Transmännern, nur hin und wieder bekommt er positiven Content in seinem Feed ausgespielt. Doch auch optimistische Videos spielen mit der Angst. Wenn jemand „Glück“ mit dem:der Gynäkolog:in hat, was erwartet einen dann selbst? Lottogewinn oder Niete?

Die richtige gynäkologische Praxis

Vor kurzem ging ein Video von Ärztinnen viral, die mit den am Stuhl hinterlassenen Körperflüssigkeiten ihrer Patientinnen posierten. Diese „Geschenke“ fänden sie ur lieb – das Internet war anderer Meinung. Der Besuch bei dem:der Gynäkolog:in ist immerhin einer der intimsten Momente im Leben einer Frau, der oftmals mit viel Scham verbunden ist. Und so wurde die Kommentarspalte zum Schlachtfeld: Wenn sogar Frauenärztinnen Späße zugunsten von Patientinnen machen, wo soll man sich noch sicher fühlen? Denn zu männlichen Ärzten wollen sowieso viele nicht. Prinzipsache.

Wobei sich da die Geister scheiden: Manche Frauen fühlen sich bei männlichen Gynäkologen besser aufgehoben, betonen, dass sie sich dort besser verstanden fühlen und diese vorsichtiger vorgehen würden. Eine generelle Lösung gibt es also nicht, jede Erfahrung ist individuell. Das beste Beispiel: Ich mag meine Frauenärztin; eine Freundin hat bei derselben Ärztin schlechte Erfahrungen gemacht und geht nun gar nicht mehr hin.
Aber: Man kann Gynäkolog:innen wechseln. Da die Besuche gerade im jungen Alter tendenziell sowieso nur einmal im Jahr stattfinden, gibt es da auch mit der Versicherung keine Probleme. Es ist ein bisschen wie mit Therapeut:innen, irgendwann findet man das perfect match. Vielleicht hat eine Freundin einen Tipp, ansonsten: gemeinsam Termin ausmachen und sich danach austauschen, wenn’s nicht der:die Richtige war. Das kennen wir doch alle.

Überwindung

„Für viele junge Frauen ist der erste Besuch mit Unsicherheiten verbunden. Das ist völlig normal, da der Besuch oft ein sensibles Thema anspricht. Es gibt jedoch einige Möglichkeiten, diese Ängste zu lindern“, so Dr. Tiringer. Auch für Frauen, die aufgrund von traumatischen Erfahrungen Probleme mit der gynäkologischen Untersuchung haben, gibt es Strategien und Lösungsansätze. „Ein traumasensibler Ansatz ist entscheidend. Dazu gehören Beruhigung, Vertrauensbildung, die Schaffung eines sicheren Rahmens und die Ermöglichung von Kontrolle. Ärzt:innen sollten sich über traumatische Folgen informieren und geduldig sowie wertschätzend reagieren. Es ist wichtig, die Frau nicht zu überfordern und bei Bedarf an spezialisierte Beratungsstellen, Traumatherapeut:innen oder die Frauenberatung zu verweisen.“

Dr. Tiringers Tipps

  • Wenn man sich in Begleitung wohler fühlt, vorab bei der Praxis nachfragen, ob man ein Familienmitglied oder eine Freundin mitbringen kann. Das kann etwas Entspannung in die Situation bringen.
  • Um sich auf dem Untersuchungsstuhl „angezogener“ zu fühlen, kann man ein Kleid oder ein längeres Oberteil anziehen, das man dann auch auf dem gynäkologischen Stuhl anlassen kann.
  • Wenn man konkrete Fragen hat, notiert man sie am besten vor dem Termin in der Gynäkologie. So vergisst man in der eventuellen Aufregung auch nichts.

Gynäkologie für alle

Was wir aus all dem mitnehmen sollten: Kein Mädchen, keine Frau, keine Person mit Uterus sollte sich bei diesem Thema allein fühlen. Wer offen über eigene Erfahrungen spricht, macht es anderen leichter, sich nicht mehr zu schämen. Über so ein intimes Thema zu reden kann Überwindung kosten, doch wir müssen uns gegenseitig aufklären, entlasten und ein Zeichen für die Enttabuisierung von Frauengesundheit setzen – und sollten uns dabei nicht auf potenzielle Falschinformationen aus dem Internet verlassen. An dieser Stelle nochmal ein expliziter Appell an alle Mütter, die diesen Text lesen: Sprechen Sie darüber. Eventuell begegnet auch Ihr Kind solchem Content auf Social Media und wird dadurch unterschwellig beeinflusst. Ich bin meiner Mutter heute sehr dankbar, dass sie mich damals schon in die Praxis gebracht hat und mir die Notwendigkeit dieser Untersuchungen erklärt hat. Denn auch wenn viele Teenies keine Lust auf derartige Gespräche haben, reicht manchmal ein einziger Satz: „Wir machen das zusammen.“

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