Lass mich fliegen evelyn faye im interview

„Lass mich fliegen“: Filmemacherin Evelyne Faye übers Anderssein

WIENERIN Filmtipp

8 Min.

Evelyne Faye mit Tochter Emma Lou. Foto: Victoria Schaffer

Die Protagonist:innen haben das Downsyndrom, aber Evelyne Fayes „Lass mich fliegen“ ist kein Film über das Downsyndrom, sondern darüber, wie unsere Vielfalt uns alle bereichert.

Wir sind alle anders

Der Saal ist voll junger Leute. Vorne am Pult spricht Andrea. Sie lauschen ihr gefesselt, während sie sich an ihre Kindheit erinnert und das Geheimnis einer Erfolgsstrategie ihrer Eltern lüftet. „Anmelden, anzahlen, abstellen, abhauen“, hieß die vielfach von anderen Familien kopierte Taktik. Die Raffinesse bestand darin, die Tochter zu einem Kinderkurs ihrer Wahl anzumelden, sie pünktlich zum Beginn hinzubringen und sich schnell aus dem Staub zu machen, erzählt Andrea schmunzelnd und erntet herzliche Lacher. „Meine Eltern waren weg, ehe die Kursleitung das Downsyndrom entdeckte und das ,jaaa, aber‘ kam – und stellten danach immer fest, dass alles problemlos verlief.“ Geglückte Inklusion quasi. Diese Szene entstammt „Lass mich fliegen“, einer Dokumentation, die Menschen mit Downsyndrom erzählen. Wir trafen die Filmemacherin.

Film lass mich fliegen von Evelyn Faye
Foto: Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion

Ich saß am Schluss lächelnd und mit Tränen in den Augen beim Abspann und dachte mir: Dieser Film verändert den Blick auf die Welt.

Evelyne Faye: Das freut mich extrem, der Perspektivenwechsel war mein großer Wunsch – auf eine weiche, humorvolle Art. Es geht darum, hinter Klischees eine Welt zu entdecken, die man anders eingeschätzt hat, die extrem bereichern kann. Wir teilen schnell in Kategorien ein, haben bewusst oder unbewusst Vorstellungen von bestimmten Menschen; mit dem Film möchte ich jedem die Möglichkeit geben, überrascht zu werden.

Andrea bleibt ihr Wunsch verwehrt, in der Altenbetreuung arbeiten zu dürfen. Mein zweiter Gedanke war: Unsere Gesellschaft vergeudet viel Potenzial.

Es war mir wichtig, einer Gruppe von Menschen eine Plattform zu geben, über die sonst geredet wird. Mit dem Film sollten sie selbst gehört werden und zeigen können, was sie für tolle Persönlichkeiten sind.

Bemerkenswert ist, mit wie viel Humor viele Themen reflektiert und behandelt werden.

Humor hat eine enttabuisierende Wirkung. Es geht nicht um das Thema Behinderung, sondern um die Wahrnehmung des Andersseins. Das sollte keine Schwere haben, es sollte als Teil der Diversität, als ein Gesicht unserer Gesellschaft betrachtet werden. Man kann so schön mit den Protagonist:innen lachen; dabei vergisst man Hemmungen und Ängste. Das Prinzip der Inklusion ist: Wenn man ab dem Kindergartenalter eine gemischte Gesellschaft erlebt, wenn man mit Kindern zusammen ist, die körperliche oder geistige Eigenheiten haben, wird man auch als Erwachsene kaum Hemmungen haben, mit jemandem mit einer Beeinträchtigung zusammenzuarbeiten.

Es geht auch um Chancengleichheit. Wie soll ein Kind, dem von Anfang an gesagt wird, was es alles nicht können wird, ein Selbstwertgefühl aufbauen? Jede Etikette, die man verpasst bekommt, hat einen Impact auf die Entwicklung. Der Film ist eine Erinnerung daran, dass wir alle einzigartig sind. Wir sind alle anders.

Aus dem Film Lass mich fliegen von Evelyne Faye
Foto: Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion

DOWNSYNDROM bringt VORURTEILE

Beeindruckend ist etwa Magdalenas klare Kritik: Sie ärgert sich darüber, dass ihr die Chance genommen wird, zeigen zu können, wer und wie sie ist, wie schlau sie ist.

Sie sagt direkt: „Lasst mich mit diesen Etikettierungen in Ruhe.“ – Damit waren wir bei der Geburt unserer Tochter Emma Lou sofort konfrontiert. Schon im Kreißsaal herrschte bedrückende Trauerstimmung; sie sah süß aus, wie ein kleines Kartoffelchen, aber ich sah die mitleidigen Blicke und später wurde uns ein bisschen verlegen die Diagnose verkündet. Ein Arzt hat sogar gesagt: „Sie haben Glück, man sieht das Downsyndrom nicht so stark bei ihr.“ Bevor also Emma Lou ihre Persönlichkeit zeigen konnte, hat man schon gemeint zu wissen, wer sie ist, was sie können wird, was nicht. Menschen, die als Minderheiten von der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen werden, erleben das täglich.

Wie seid ihr ins Leben gestartet?

Ich habe sehr bald klar gespürt: Emma Lou wird uns zeigen, was sie braucht, was sie möchte. Es war eine intensive erste Zeit; sie hatte mit sieben Monaten eine Herzoperation. Wir konzentrieren uns bei Menschen mit einer Behinderung so stark auf die Defizite und vergessen, was sie alles schaffen. Sie sind kleine Warrior; fast jedes Kind mit Downsyndrom hat große Operationen erlebt. Wenn man daran denkt, gelingt der Perspektivenwechsel leichter; man kann sich denken: Wow, ihr seid ziemlich beeindruckend!

Dokumentarfilm: „Lass mich fliegen“

Was war der Antrieb für dein Filmprojekt?

Ich wollte Menschen mit Downsyndrom zeigen, die zwar ihre Kämpfe kämpfen, aber es schaffen, ein schönes und selbstbestimmtes Leben zu haben. Mithilfe ihres Umfelds und ihrer Familien. Aber wir alle sind voneinander abhängig, mal mehr, mal weniger. Ich habe mich gefragt, ob die Diagnose ein Hindernis für Emma Lou sein kann, um glücklich zu werden. Als Mutter hat es mich beruhigt und inspiriert, dass die Protagonist:innen ihre Lebensentwürfe und Wege zeigen. Emma Lou wird ihren Weg gehen, aber es ist gut, starke Beispiele vor Augen zu haben. Mein Kind hat seinen Wert durch sein Dasein, nicht durch seine Leistungen. Daran sollten alle Eltern denken. Ich wollte keine Vergleiche, sondern Inspiration – so wie ein Film über Tänzer:innen inspirieren kann.

Apropos: Du hast auch sehr schöne Tanzszenen mit Johanna und Raphael integriert. Warum war dir das wichtig?

Nicht nur, weil ich es großartig finde, sondern auch um zu zeigen, dass Tanzen eine Alternativsprache sein kann. Wenn sie tanzen, zeigen sie ihre Persönlichkeit, ihre Stärken, es ist auch eine Form der Kommunikation.

Filmszene aus der Dokumentation von Evelyne Faye
Foto: Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion

Initiative „Ich will schule“

Emma Lou wurde kürzlich elf, welche Schule besucht sie?

Wir leben in Wien und sie geht hier in eine inklusive Montessori-Volksschule, in der sie sehr glücklich ist. Nächstes Jahr kommt sie in eine Mittelschule. Nur gibt es die totale Absurdität, dass Kinder mit Lernschwierigkeiten nach dem zehnten Schuljahr aus dem Bildungssystem fliegen. Sie brauchen aber länger, um Grundfertigkeiten wie Lesen, Zeichnen, Schreiben, Rechnen zu erlernen. Das elfte und das zwölfte Schuljahr ist leider nur mit Bewilligung möglich; mit der Initiative „Ich will Schule“ setzen wir uns dafür ein, dass das automatisch möglich wird, damit Eltern nicht ständig kämpfen müssen. Eine große Inspiration ist für uns der spanische Professor Pablo Pineda; er hat das Downsyndrom und einen Uni Abschluss. Auch er plädiert für Inklusion, weil Kinder so viel voneinander lernen.

Was wünschst du dir für den Film?

Dass er so viel wie möglich gezeigt wird und möglichst viele Gespräche inspiriert. Es geht um viele Themen: um Selbstständigkeit, um inklusive Schule und um die Arbeitswelt – und ganz aktuell auch um einen kritischen Blick auf normierte Schönheitsideale. Die Protagonist:innen haben mir ein sehr schönes Geschenk gemacht, als ich sie mit dem Spionspiegel überrascht habe.

Du hast sie gefragt, wie sie sich sehen und ihre ersten spontanen Reaktionen gefilmt. Eine wunderschöne Szene im Film …

Ja! Wer von uns schaut sich im Spiegel an und sagt: Ich sehe eigentlich toll aus. – Sie tun es! Sie sagen und zeigen uns, wer sie sind und wie sie zu sehen sind: nicht als Menschen mit Downsyndrom, sondern als coole, schöne, humorvolle, großartige Persönlichkeiten. Sie bringen uns bei, dass wir uns selbst schön finden sollten. Wir werden von ihnen überrascht. Der Film zeigt genau das: Wir können viel voneinander lernen – auch von Menschen, von denen man es nicht erwartet hat, weil sie in der Gesellschaft unsichtbar sind.

Emma Lou inspiriert mich und gibt mir viel Kraft, Dinge zu tun, die ich mir zuvor nicht zugetraut habe. Ich möchte meinen drei Kindern das Gefühl vermitteln, dass sie alles probieren sollen, was sie wollen, und sich nicht von Vornherein davon abhalten lassen, weil sie etwas nicht schaffen könnten.

Poster von Lass mich fliegen
Foto: Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion

Wer ist evelyne faye?

Evelyne Faye wuchs in Paris auf, ihre Mutter ist Irin, ihr Vater kommt aus Senegal. Sie studierte in Deutschland Volkswirtschaft sowie Französische und Italienische Philologie. Durch ein Filmprojekt kam sie nach Österreich und absolvierte in Salzburg auch den Lehrgang Interkulturelle Kompetenz. Die Filmemacherin ist dreifache Mutter und lebt in Wien. 2014 veröffentlichte sie mit Birgit Langs Illustrationen das wundervolle Buch: „Du bist da und du bist wunderschön“; gemeinsam mit Multimediakünstler Jo Jacob kreierte sie daraus eine interaktive App, die das Thema Downsyndrom spielerisch und für jedes Alter erfahrbar macht. Das zweite Buch entsteht gerade. Ihr Film „Lass mich fliegen“ startete im Frühjahr im Kino und ist als „Bester Dokumentarfilm“ für den ROMY Branchenpreis nominiert.

Dieser Artikel ist in der April-Ausgabe der WIENERIN erschienen.

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