Was es mit Selbstdiagnosen auf TikTok auf sich hat
#mentalhealth: Chancen und Risiken von Online-Selbstdiagnosen
© Pexels/Gelatin
ADHS, Autismus oder Depressionen: Auf Social-Media-Plattformen kursieren viele vermeintliche Selbstdiagnosevideos zu psychischen Erkrankungen. Welche Risiken das birgt und wem das helfen kann.
Ich liege auf dem Sofa und lasse mich nach einem anstrengenden Tag von Videos auf Social Media berieseln. Während mein Finger von Video zu Video swipt, erscheinen immer wieder die gleichen Themen auf meinem Smartphone-Bildschirm. Ein großer Schriftzug in Weiß: „Wenn jemand ohne ADHS zu dir sagt, jetzt konzentriere dich doch einfach mal“, dahinter eine Frau, die lachend den Kopf schüttelt.
Danach ein Video eines jungen Mannes, der im Hochformat einzelne Symptome von Autismus aufzählt: „Du bist während eines Gesprächs nicht sicher, ob du deinem Gegenüber zu lange in die Augen geschaut hast?“ Noch einen Fingerstrich weiter berichtet eine Sportlerin, wie sie ihre Essstörung in fünf Schritten überwunden hat – über ihrem Kopf leuchten die einzelnen Punkte in Textform nacheinander auf.
Selbstdiagnosen: Im Trend?
Diese Inhalte sind nicht die einzigen, die sich um das Thema mentale Gesundheit drehen. Influencer:innen reden über ihre ADHS-Diagnosen, Promis erzählen von Depressionen und Profisportler:innen über ihre Essstörungen: alles online und auf Social-Media-Plattformen. Immer mehr Menschen machen ihre mentalen Erkrankungen öffentlich, der Hashtag #mentalhealth hat bereits an die 54 Millionen Beiträge bei Instagram.
Vor allem für immer mehr junge Menschen sind TikTok und Co die ersten Anlaufstellen, wenn es um Fragen rund um die Psyche geht. Das kann einerseits Vorteile haben – wie beispielsweise im Falle von ADHS, bei dem die Symptome von Frauen noch kaum erforscht sind und deswegen weitläufig unterdiagnostiziert wird – jedoch steigt so andererseits auch das Risiko für Fehldiagnosen und Halbwissen.
#justadhsthings.
Auch Johanna Constantini bemerkt diesen Trend in ihrer Arbeit. Die Klinische Psychologin setzt sich unter anderem mit digitalen und sozialen Medien sowie ihren Folgen für das seelische Wohlbefinden auseinander: „Ich bemerke eine grundsätzliche Beeinflussung durch soziale Medien bei meinen Klient:innen, besonders was das vermeintliche Vorwissen angeht“, berichtet sie uns. „Viele kommen mit gefährlichem Halbwissen aus Social Media und nennen Selbstdiagnosen wie zum Beispiel narzisstische Persönlichkeitsstörungen – für diese braucht es jedoch eine eingehende Diagnostik.“
Vor allem die vermehrte Nutzung von künstlicher Intelligenz (KI) und Chatbots wie ChatGPT oder Gemini würden vielen Nutzer:innen das Gefühl geben, die richtige Lösung für alle Fragen rund um die mentale Gesundheit zu haben. „Die schnelle Konfrontation auf Social Media verleitet dazu, sich nur oberflächlich zu informieren und nur Informationen anzunehmen, die von Algorithmen zugespielt werden“, so Constantini.
Die schnelle Konfrontation auf Social Media verleitet dazu, sich nur oberflächlich zu informieren.
Johanna Constantini, Klinische Psychologin
Zweischneidiges Schwert.
Trotz der Risiken ermögliche Social Media jedoch auch eine Enttabuisierung von psychischen Erkrankungen: „Es ist wichtig, nicht nur die negativen Auswirkungen anzusprechen“, so die Innsbruckerin. „Hashtags wie #mentalhealth oder Challenges wie die Ice-Bucket-Challenge weisen auf verschiedene Erkrankungen hin und bieten so zahlreiche persönliche Zugänge, um darüber aufzuklären.“
Trotzdem müsse man aufpassen, welche Informationen ausgespielt werden. Nutzer:innen von Social-Media-Plattformen, die sich mit Videos zu psychischer Gesundheit beschäftigen würden, bekämen nämlich immer öfter ähnliche Inhalte ausgespielt – auch Filterblasen genannt: „Diese schmälern natürlich kritische Sichtweisen zu den ausgespielten Inhalten. Das sollte man sich beim Surfen im Internet und dem Durchforsten von Social-Media-Newsfeeds immer in Erinnerung rufen.“
Filterblasen schmälern kritische Sichtweisen zu ausgespielten Inhalten – das sollte man sich beim Durchforsten von sozialen Medien in Erinnerung rufen.
Johanna Constantini, Klinische Psychologin
Professionelle Unterstützung.
Wer sich im Internet über psychische Erkrankungen informieren will, sollte sich vor allem auf professionelle Seiten beschränken, berichtet Constantini. „Ich empfehle Seiten wie die der Weltgesundheitsorganisation, des Berufsverbands Österreichischer Psycholog:innen oder auch die renommierter Fachzeitschriften und Journale.“
Bei Verdacht auf eine Erkrankung sei es jedoch auch wichtig, professionelle Hilfe aufzusuchen und sich nicht nur im Internet zu informieren: „Niederschwellige Anlaufstellen sind regional beispielsweise die psychosozialen Zentren in Tirol, aber auch Hausärzt:innen des Vertrauens. Diese verweisen dann an Fachärzt:innen und Psycholog:innen, um diagnostische Abklärung und Therapiemöglichkeiten leisten zu können“, erklärt die Expertin.
Bewusstsein schärfen.
Um sicherzustellen, dass Informationen über die psychische Gesundheit sachlich und verantwortungsbewusst präsentiert werden, sieht die Klinische Psychologin auch die Plattformen selbst in Verantwortung: „Die steigenden Nutzungszahlen verdeutlichen, dass TikTok und Co für verschiedene Generationen bereits entscheidend meinungsbildend sind. Meiner Meinung nach muss viel Aufholarbeit geleistet werden, was das Bewusstsein der Plattformen zu deren Verantwortung angeht.“
Wichtig sei ihr auch zu betonen, dass Social-Media-Plattformen zwar umsonst genutzt werden könnten – auf die eine oder andere Art zahle man jedoch trotzdem: „Als Nutzer:in sollte man sich in Erinnerung rufen, dass man oft in Form von persönlichen Informationen zahlt, denn die Währung sind die eigenen Daten.“ Und gerade bei sensiblen Daten wie denen über psychische Erkrankungen sei es wichtig, sich die Permanenz von Inhalten auf Social Media ins Bewusstsein zu rufen. Diese haben nämlich im Gegensatz zu Psychotherapeut:innen und Psycholog:innen garantiert keine Schweigepflicht.
INFO:
Psychische Erkrankungen sind ernstzunehmende Gesundheitsprobleme, die jede:n treffen können. Wenn du Unterstützung oder Hilfe brauchst, kannst du dich an folgende Anlaufstellen wenden:
- pro mente tirol gemGmbH: Karl-Schönherr-Straße 3, 6020 Innsbruck
- Psychosozialer Pflegedienst Tirol – Wenn die Seele Hilfe braucht: Innsbrucker Straße 83-85, Hall in Tirol
- Psychosoziale Zentren Tirol: Imst: Pfarrgasse 32, Reutte: Planseestraße 6, Innsbruck: Maximilianstraße 23, Wörgl: KR-Martin-Pichler-Straße 21, Lienz: Maximilianstraße 20
- Psychosozialer Krisendienst des Landes Tirol: Täglich von 8 bis 20 Uhr unter 0800 400 120 erreichbar
- Ambulanz der Tirol Kliniken
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MEHR ÜBER DIE AUTORIN DIESES BEITRAGS:
Tjara-Marie Boine ist Redakteurin für die Ressorts Business, Leben und Kultur. Ihr Herz schlägt für Katzen, Kaffee und Kuchen. Sie ist ein echter Bücherwurm und die erste Ansprechpartnerin im Team, wenn es um Themen wie Feminismus und Gleichberechtigung geht.
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