Tabuthema Selbstbefriedigung: Warum wir mehr darüber sprechen sollten

Hand drauf: Warum Selbstbefriedigung kein Tabu sein sollte

Ein Gespräch über Lust, Scham und Selbstliebe

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Fast jede:r tut es, doch kaum jemand spricht darüber: Selbstbefriedigung. Wir fragen Sexualtherapeutin Ulrike Paul, warum Männer öfter Pornos schauen und was ein Schnuller mit unserer sexuellen Entwicklung zu tun hat.

„Ich masturbiere gerne vor dem Spiegel. Zum Teil, weil es heiß ist, aber auch, weil ich dabei eine so unverfälschte, tiefe Verbindung zu mir selbst und meinem Körper habe und eine Liebe zu meinem Körper empfinde, die ich noch nie hatte“, sagte Billie Eilish Anfang des Jahres in einem Interview mit dem „Rolling Stone“. Und brach damit das Schweigen über ein Thema, das uns doch alle mehr oder weniger verbindet.

Warum ist es uns eigentlich so peinlich, über Selbstbefriedigung zu sprechen? Und sollte man damit aufhören, nur weil man in einer Beziehung ist? Paar- und Sexualtherapeutin Ulrike Paul gibt Antworten – in einem Gespräch über Lust, Scham und Selbstliebe.

Tabuthema Selbstbefriedigung: Warum wir mehr darüber sprechen sollten
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Über weibliche Selbstbefriedigung spricht man in unserer Gesellschaft noch weniger als über Sex. Warum?

Ulrike Paul: Zum einen gibt es die geschlechtertraditionellen Bilder, wo der Mann der Potente ist, der immer kann und will, sich oft selbst befriedigt und Pornografie konsumiert. Dem gegenüber steht die eher zögerliche Frau, die passiv Abwartende, die sich erobern lässt und über Selbstbefriedigung nicht spricht oder das vielleicht verschämt und selten tut.

Diese Bilder sind wirkmächtig, aber es verändert sich gerade viel. In den letzten fünf, zehn Jahren sind Frauen in Bezug auf ihre Sexualität viel selbstbewusster geworden. Sie fordern ihre Wünsche und Bedürfnisse vehementer ein, konfrontieren ihren Partner damit und widmen sich ihrer Sexualität und Fantasien viel mehr. Sie reden offen darüber, dass sie sich genussvoll selbst befriedigen und versuchen herauszufinden, was ihr Begehren ist.

In den letzten fünf, zehn Jahren sind Frauen in Bezug auf ihre Sexualität viel selbstbewusster geworden.

Ulrike Paul, Paar- und Sexualtherapeutin

Früher war Selbstbefriedigung viel schambesetzter und in einem „schmutzigen“ Eck verortet – etwas, das sich nicht gehört, das sündhaft ist oder gar krank macht. Diese Vorstellungen wirken noch nach, aber sie verlieren zunehmend an Bedeutung. Es ist wichtig, dass wir das Tabu weiter durchbrechen und es als das sehen, was es ist: ein ganz natürlicher und positiver Teil unserer Sexualität.

Wie finde ich heraus, was mir sexuell gefällt?

Das meiste findet man in sich selbst. Jeder Mensch hat psychosexuelle Vorlieben oder Tendenzen, die oftmals in die frühe Kindheit zurückgehen. Manche Präferenzen, etwa in Bezug auf den:die Partner:in oder die sexuelle Orientierung, können schlummern und werden erst bei genauerem Hinspüren bewusst. Wer sich erlaubt, sich diesen Fantasien hinzugeben und herauszufinden, was einen erregt, kann sich intensiver erkunden. Es geht darum, herauszufinden, welche Berührungen einem gefallen und sich von den eigenen Fantasien tragen zu lassen. Auch das Experimentieren mit Sextoys kann hilfreich sein, sie werden mittlerweile in vielen Partnerschaften oder auch alleine – von Männern und Frauen – ganz selbstverständlich genutzt.

Also ist Selbstbefriedigung im Grunde eine Art Selbstfürsorge?

Genau, viele sehen das inzwischen als eine Art Wellness-Moment. Manche Frauen genießen es beispielsweise nach der Sauna oder nach dem Sport – sie sagen, dass es ihnen guttut, sich dann selbst zu befriedigen. Es hat etwas Entspanntes, Genussvolles. Es ist kein hektisches Nebenbei, sondern ein Moment, den sie sich bewusst nehmen, um sich selbst zu spüren und zu genießen.

„Genüge ich dir etwa nicht?“ – in vielen Beziehungen gilt Masturbieren als No-Go. Wie sehen Sie das?

Es hängt immer davon ab, wie es dem Paar miteinander geht. Wenn das partnerschaftliche Sexualleben eher brachliegt, und sich eine Seite – in Hetero-Beziehungen ist es meist der Mann – zurückzieht und sich selbst befriedigt, kann das bei der Partnerin Unsicherheit auslösen. Frauen haben dann oft das Gefühl, dass sie nicht genügen. Wenn sie auch noch herausfinden, dass der Mann Pornos konsumiert, kann das ein Entwertungsgefühl auslösen.

Die Vorstellung, dass dort Praktiken gezeigt werden, die sie selbst nicht machen möchten, oder dass die Frauen im Porno „schöner“ und „begehrenswerter“ sind, ist belastend. Umso wichtiger ist es, vertrauensvoll darüber zu sprechen und zu verstehen, was Selbstbefriedigung jeweils bedeutet. Oft handelt es sich um eine Ergänzung zur partnerschaftlichen Sexualität. Das kann bei dem:der Partner:in durchaus positive Resonanz auslösen; vielleicht gibt es sogar Überschneidungen.

Wenn es sich allerdings um exzessiven, suchthaften Pornografiekonsum handelt, dann kann das ein Hinweis auf tieferliegende Bindungsängste sein, die man oft selbst nicht bewusst wahrnimmt. Dieses Phänomen betrifft meistens Männer.

Tabuthema Selbstbefriedigung: Tipps
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Befriedigen sich Männer anders als Frauen?

Männer konsumieren generell mehr Pornografie. Frauen dagegen neigen mehr dazu, zu fantasieren und zu imaginieren, sie sind nicht so bildgebunden. Das hat mit dem männlichen Blick in der Pornografie zu tun, aber auch mit Schutzmechanismen. Viele Männer haben auf einer unterbewussten Ebene Angst, sich von Frauen zu abhängig zu machen, und nutzen Pornos, um eine gewisse Distanz zu wahren und die Serialität und Austauschbarkeit von Frauen zu bestätigen.

Pornokonsum ist natürlich nicht per se etwas Problematisches oder Krankhaftes; es kann auch einfach ein Mechanismus sein, um Unabhängigkeit zu bewahren. Bei Männern ist das tendenziell stärker ausgeprägt, und daher reagieren sie mehr auf Pornos.

Gleichzeitig gibt es nach wie vor zu wenig pornografische Inhalte, die sich auf weibliches Begehren fokussieren. Die herkömmliche, heterosexuelle Pornografie zeigt sehr stereotype Rollenaufteilungen von Männlichkeits- und Weiblichkeitsbildern. Sie ist oft frauenentwertend und stellt den von Potenz strotzenden Mann in den Vordergrund, der permanent ejakuliert. Natürlich gibt es inzwischen Nischen für weibliche und queere Pornos, aber die sind noch lange nicht im Mainstream angekommen.

Wie beeinflusst regelmäßige Selbstbefriedigung den Sex mit dem:der Partner:in?

Seine eigene Sexualität zu kennen, ist eine wichtige Voraussetzung für eine erfüllte Partnerschaft. Wenn ich mir meiner eigenen Fantasie und Psychosexualität bewusst bin und weiß, zu welchen Teilen ich stehen kann und zu welchen vielleicht weniger, kann ich meine Bedürfnisse auch besser vermitteln und habe einen anderen Resonanzrahmen für das, was mein Gegenüber möchte.

Seine eigene Sexualität zu kennen, ist eine wichtige Voraussetzung für eine erfüllte Partnerschaft.

Ulrike Paul, Paar- und Sexualtherapeutin

Wenn ich auf das Thema hingegen mit Angst und Abwehr reagiere, bin ich auch nicht in der Lage, vom anderen etwas zu empfangen. Selbstbefriedigung kann parallel zu einer Beziehung existieren oder sogar mit ihr interagieren – zum Beispiel, indem man sich auf den Sex einstimmt oder das, was man besonders genossen hat, noch einmal alleine nacherlebt. Man kann auch den eigenen Fantasien nachspüren, die beim gemeinsamen Liebesspiel noch keinen Raum gefunden haben, und diese dann mit dem:der Partner:in teilen – das kann sehr bereichernd sein.

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Kann es auch negative Auswirkungen haben, wenn man seine eigene Sexualität nicht auslebt?

Ich finde es hier wichtig zu betonen, dass es asexuelle Menschen gibt, die kein Interesse daran haben, und das sollte auch respektiert werden. Es ist vollkommen in Ordnung, wenn jemand kein Sexualleben hat und sich damit wohlfühlt – das ist dann kein Defizit. Davon abgesehen: Wenn jemand seine eigene Libido weder alleine noch mit einem:einer Partner:in wirklich er- oder auslebt, dann kann das auf Dauer zu einem Verlust an Vitalität führen.

Sich in der eigenen Sinnlichkeit zu erleben, die Fähigkeit zu spüren, Erregung aufzubauen und Spannung durch einen Orgasmus abzubauen, ist körperlich und psychisch ein umfassendes, intensives Erlebnis. Dieser Prozess kann sehr viel Energie und Vitalität freisetzen. Wenn dieser Zugang blockiert ist, wird einem Menschen ein wichtiger Teil seiner Lebensenergie genommen.

Viele Eltern sind verunsichert, wenn ihr Kind anfängt, den eigenen Körper zu erkunden. Wie sollte man das Thema in der Erziehung am besten angehen?

Kinder erleben schon sehr früh Lust, auch erotische. Sie kommt in verschiedenen Formen zum Ausdruck; zum Beispiel beim Saugen an der Brust oder der Flasche, oder beim Daumenlutschen oder Nuckeln an einem Schnuller. Irgendwann steht nicht mehr die Nahrungsaufnahme im Zentrum, sondern die Lust am Saugen selbst. Einerseits sollten Eltern dem Kind die Lust am eigenen Körper gönnen und sie zulassen.

Andererseits müssen sie das Kind in gesellschaftliche Normen hineinbegleiten – was ist in der Öffentlichkeit akzeptabel und was nicht? Was darf ein Kind bei einem anderen Kind tun, welche persönlichen Grenzen gilt es zu respektieren? Da sind Erziehung und ein Korrektiv notwendig. Aber zunächst einmal geht es darum, dass Kinder ihren eigenen Körper und die damit verbundene Lust entdecken können, zum Beispiel beim Baden oder im Spiel. Diese körperliche Lust ist eine ganz natürliche, sinnliche Erfahrung und eine Vorstufe dessen, was sich im Erwachsenenalter zur sexuellen Lust entwickelt.

Reagieren die Eltern darauf mit Schock, Entsetzen oder gar Schimpfen, ist das für das Kind verstörend. Sind die Eltern dagegen selbst entspannt und sicher im Umgang mit Sexualität, können sie dem Kind diesen Raum geben, ohne sofort zu urteilen oder einzugreifen.

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Mehr über die Autorin dieses Beitrags:

Stellvertretende Chefredakteurin und Redakteurin für Style, Beauty und Gesundheit der TIROLERIN, Andrea Lichtfuss
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Andrea Lichtfuss ist Stv. Chefredakteurin der TIROLERIN und für die Ressorts Beauty, Style und Gesundheit zuständig. Sie mag Parfums, Dackel und Fantasyromane. In ihrer Freizeit findet man sie vor der X-Box, beim Pub-Quiz oder im Drogeriemarkt.

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