Was reizt uns an Reality-TV-Shows? Expertinnen klären auf

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Credit RTL / René Lohse

Sich für den Konsum von Trash-TV zu verstecken war gestern. „Reality-TV-Shows bieten einen tiefen Einblick in die Gesellschaft“, sagt die promovierte Soziologin und Buchautorin Laura Wiesböck. „Wenn Mütter mit ihren Töchtern ,Germany’s Next Topmodel‘ schauen, verhandeln sie quasi den familiären Umgang mit Geschlechterrollen: beispielsweise wie man als Frau bestimmte Lebenssituationen gestalten kann“, analysiert Psychotherapie-Professorin und Kulturwissenschaftlerin Aglaja Przyborski.

Die beiden Expertinnen beschenkten uns reich mit neuen Blickwinkeln auf ein Genre, das sogar fortschrittliches Potenzial in sich tragen kann.

Realitys-TV-Shows boomen weltweit

Wie erleben Sie dieses Phänomen?

Laura Wiesböck: Ich finde es interessant, wie es sich vom anfänglichen Image eines – damals plakativ formuliert – „Unterschicht-Fernsehens“ entwickelt hat und mittlerweile in der Mittelschicht angekommen ist. Reality-TV-Shows sind heute vor allem auch ein Karriereweg: Kandidat:innen beginnen in einer Show und versuchen an so vielen weiteren wie möglich teilzunehmen, um mehr Instagram-Follower:innen und Werbeaufträge zu bekommen und die gewonnene Aufmerksamkeit maximal zu kapitalisieren.

Aglaja Przyborski: Es fand eine grundsätzliche Veränderung der medial verfassten Gesellschaft statt: Früher waren mediale Inhalte professionell er- oder bearbeitet. Man schaute auf die „Wirkung“ von Medien. Durch Social Media wird deutlich, dass es nicht die Medien auf der einen und die Menschen auf der anderen Seite sind.

Vielmehr bringen Medien und Gesellschaft einander wechselseitig hervor. Die ständige Verfügbarkeit technisch vielfältiger Möglichkeiten, mehr oder weniger verwachsen mit uns (deutet auf das Smartphone, Anm.), nährt zudem die Fantasie es gäbe quasi keinen Unterschied zwischen dem persönlichen Öffentlichgehen und dem professionellen Bedienen einer Medienöffentlichkeit.

Diese Fluidität wird durch Reality-Formate bedient. Den meisten ist zwar klar, dass eine hohe Inszenierungsleistung in den Reality-Formaten steckt, dennoch sind die Menschen dort in keiner Rolle, die sich klar von ihrer persönlichen und privaten Identität abgrenzt.

Bedient wird die Fantasie, man käme leicht zu Geld und Aufmerksamkeit.

Aglaja Przyborski, Psychotherapie-Professorin und Kulturwissenschaftlerin

Weshalb bemühen sich einige Leute so sehr, in die Öffentlichkeit zu kommen?

Laura Wiesböck: Micro-Celebritys sind ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das zeigt sich auch bei Influencer:innen. Die Fähigkeit zur Aufmerksamkeitsgenerierung ist ökonomisch umwandelbar; Realityshows können ein guter Weg sein, um in kurzer Zeit zu Geld und zu Aufmerksamkeit zu kommen. Man muss allerdings Zeit und Geld in den Körper investieren.

Aglaja Przyborski: Mit der psychotherapeutischen Brille betrachtet: Wir alle sind beziehungsabhängige Wesen. Ohne menschliche Zuwendung können wir nicht existieren. (Fehlende) liebevolle Beziehungen können mit prekären Formen von Aufmerksamkeit oder Zuwendung verwechselt werden. Mediale Aufmerksamkeit und Geld verstärken einander.

Mit dem Geld kann ich für noch mehr Aufmerksamkeit sorgen, mich aufwerten. Reality-TV-Shows bedienen die Fantasie, dass all das leicht zu haben ist: Ich muss mich nur öffentlichkeitswirksam inszenieren.

Aber: Das Phänomen mag zwar oberflächlich gleich aussehen, was bei den einzelnen jeweils dahintersteht, kann aus psychologischer Sicht ganz unterschiedlich sein. In Reality-TV-Shows gibt es Menschen, die aus medienaffinen Familien kommen, oder auch Menschen mit brüchigen Biografien, um nur zwei von vielen Varianten zu nennen.

Haben Sie den Eindruck, dass die Formate extremer oder dramatischer werden?

Laura Wiesböck: Darauf könnte ich nur subjektiv antworten: vielleicht, weil es teilweise schon einen Gewöhnungseffekt gibt. Was man sicher sagen kann: Die Herstellung von intensiven Emotionen, Konflikten und Drama sind die Säulen dieses Entertainments.

Aglaja Przyborski: Ich habe den Eindruck, dass sich die Formate ausdifferenzieren. Vor unserem Gespräch habe ich mit einer Menge eher jüngerer Leute zwischen 18 und Anfang 30 geredet. Interessant war, wie vielfältig die Vorlieben in Bezug auf diese Formate sind: von japanischen bis hin zu Drag-Shows.

Es ist sehr unterschiedlich, was den Kick ausmacht. Wenn es nun so eine Vielfalt gibt, kann man allgemein etwas dazu sagen, woher die Faszination des Publikums rührt?

Laura Wiesböck: Es kann darum gehen, der Monotonie des eigenen Lebens zu entfliehen, oder es kann sogar die Möglichkeit bieten, dankbar für die eigene „langweilige“ Paarbeziehung zu sein (lacht), weil es beispielsweise in Datingshows viel Chaos, Unklarheiten, Enttäuschungen gibt.

Der Reiz kann ebenso darin liegen, dass man Situationen, die man als unangenehm wahrnimmt, aus einer sicheren Distanz betrachten kann, wie zum Beispiel Dating.

Ein Plus ist außerdem, dass es unter Leuten mit Vorlieben für dieselben Shows verbindende Effekte gibt, wenn man sich darüber unterhält und sich positioniert, wer zusammenbleiben soll, wen man gut oder nicht gut findet. All das entspricht den gängigen Normen von Tratsch, das hat eben etwas sehr Verbindendes.

Das sind Momente, die sonst so nicht im Mainstream-Fernsehen vorkommen.

Laura Wiesböck, Soziologin

Aglaja Przyborski: Ich sehe das genauso – und möchte das noch weiterdenken. Die hohe gesellschaftliche Mobilität in jeglicher Hinsicht führt dazu, dass immer mehr Menschen habituell verunsichert sind. Es gibt heute kaum selbstverständliche Formen des einander Begegnens für intime Beziehungen. Viele sind verunsichert, wie sie als Mann, als Frau, als fluid und dazwischen, anderen begegnen.

Reflexion findet im Spiegel der TV-Inszenierung statt, im Spiel der Über-Gegensätzlichkeiten von Geschlechtsrollenstereotypen: Da ist die sexy, junge zarte Frau mit schmaler Taille, feenhaftem Haar und zugleich tiefer Stimme und Spaß an der „Leading Position“ oder der junge Mann, der gleichzeitig reflektiert und einfühlsam sowie muskulös und schlagkräftig ist.

Es geht immer wieder um die Inszenierung von normativen Erwartungen, von denen man sich mehr Sicherheit erhofft, oft aber weiter verunsichert wird. Aber: Das Spiel mit der Reflexion kann auch lustvoll sein. Wenn die Leute eine gewisse Sicherheit haben, kann das Spielen etwa mit geschlechtstypischen Identitätserwartungen ein Freizeitspaß sein.

Es ist nicht immer alles ein Zeichen von: Alles geht den Bach runter (lacht). Ich kann mitten im Leben stehen und meinen Spaß haben, indem ich meine Möglichkeiten ausreize.

Laura Wiesböck: Viele Reality-Formate sind daraufhin ausgerichtet, traditionelle Geschlechterrollen zu stabilisieren; so werden starke Ideen von einer kommerzialisierten Form von Weiblichkeit verbreitet: Wenn man viel Zeit und Geld in sein Aussehen investiert, erhöht das den eigenen Wert und Status – und fördert männliche Anerkennung.

Und all das, so wird es oft transportiert, hat ein Ablaufdatum. Gleichzeitig zeigen sich darin auch moderne, fortschrittliche Momente. Kürzlich hat eine Kandidatin in „Temptation Island“ gesagt, sie gehe jetzt schlafen, da sie im Wechsel sei (bei der RTL-Show steht quasi die Monogamie auf dem Prüfstand, Anm.).

Im Format „Bachelor in Paradise“ outete sich ein syrischer Kandidat. Bei „Naked Attraction“ (RTL II, Anm.) nehmen unter anderem Transpersonen teil. Das sind Momente, die sonst so nicht im Mainstream-Fernsehen vorkommen. Reality-Formate haben also auch emanzipatorische und progressive Potenziale, davon würde man auf den ersten Blick nicht ausgehen.

Diesem Interview ging ein Gespräch mit einer Kandidatin voran, die mit Rassismus konfrontiert war. Was meinen Sie, wie weit sind die Macher:innen verantwortlich dafür, was alles passiert?

Laura Wiesböck: Reality-TV-Shows können ein Ort sein, in dem bestimmte Normen forciert werden. In einem deutschen Format kam es zum Beispiel zu körperlicher Gewalt und die Person wurde daraufhin „eliminiert“. Damit wurde auf die soziale Regel verwiesen, dass Gewalt inakzeptabel und indiskutabel ist und es Sanktionen dafür gibt.

Bei dem Fall im österreichischen Format, das Sie ansprechen, war auffallend, zu sehen, mit welcher Ruhe die Teilnehmerin, eine Woman of Color, argumentiert hat (dass das N-Wort nicht zulässig ist, Anm.). Es hat so gewirkt, als ob die Kandidatin viel Erfahrung mit Rassismus habe und sehr darauf aufpasse, keine Angriffsfläche für die abwertende Zuschreibung einer „angry black woman“ zu bieten.

In diesem Fall wurden vom Format keine Konsequenzen gezogen. Aber: Prinzipiell tragen jegliche Grenzüberschreitungen das Potenzial, bestimmte Werte und Normen herzustellen oder auf diese zu verweisen.

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Aglaja Przyborski: Es ist wesentlich, zu verstehen, was diese Formate bedienen: nämlich die Auseinandersetzung damit, dass Rollenvorgaben, Geschlechteridentitäten et cetera zwar nie einlösbar sind, wir uns aber handlungspraktisch auf sie beziehen müssen.

Sei es, dass wir Rollenvorgaben nicht infrage stellen und uns schlecht fühlen, wenn wir sie nicht erfüllen können, oder dass wir uns dagegen auflehnen oder mit ihnen spielen und so weiter. Wenn wir in der Früh ein bisschen verschlafen einer Person begegnen, die geschlechtstypisch nicht klar zuzuordnen ist, kostet das die meisten von uns nach wie vor einen zweiten Blick.

Weil wir uns an Normen orientieren, auch wenn wir sie gleichzeitig handlungspraktisch nie ganz einlösen können. Unter anderem dieses Spannungsverhältnis bedienen Reality-Formate. So kann habituelle Sicherheit unter anderem beim Fernsehen entstehen, wenn es dann etwa heißt: „Bitte, schau dir das an, das geht gar nicht!“ oder
„Das finde ich jetzt aber schon super!“.

Mit Schnitt, Untertitel und Co werden nicht selten Schwächen von Kandidat:innen lächerlich gemacht. Wie weit kann das ein gefährliches Vorführen sein?

Laura Wiesböck: Das kann es auf jeden Fall sein und es gibt auch schon wichtige Initiativen: Jeremy Hartwell, ein Teilnehmer von „Love is Blind“ setzt sich etwa für bessere Arbeitsbedingungen im Reality-TV ein. Er sagt: Wie kann es sein, dass das Produktionsteam nach acht Stunden Schicht wechselt, die Kandidat:innen aber ohne Pause weiterdrehen sollen.

Er verweist auch auf Personen mit psychischen Problemen, die nicht geschützt, sondern vorgeführt werden. Man muss sich das schon vor Augen halten: Du hast keine Privatsphäre, schläfst häufig mit vielen fremden Personen in einem Zimmer, es wird so gut wie jeden Abend viel Alkohol getrunken und man hat keinen Zugang zu vertrauten
Personen, mit denen man sich ungefilmt austauschen kann.

Das ist eine starke Belastung und wenn man psychisch vorbelastet ist, womöglich verheerend. Zum Schutz der Reality-TV-Show-Kandidat:innen wäre es in jedem Fall sehr wichtig, dass hier intensiver reguliert wird.

Aglaja Przyborski: Menschen, die dafür nicht ausgebildet sind (im Gegensatz zu Schauspieler:innen, Anm.) und als die Person, die sie sind, teilnehmen, in möglichst aufwühlende Situationen zu bringen, ist natürlich ethisch und moralisch fragwürdig, das kann ich nur unterstreichen. Dennoch handelt es sich um Erwachsene, die sich selbst für diese Situation entscheiden

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