No/Low Alcohol

No/Low Alcohol: Warum alkoholfrei gerade voll im Trend liegt

Nüchtern betrachtet

7 Min.

© Unsplash/Corina Rainer, Pexels/Mister Mister

Klare Köpfe statt Kater: Warum sich die Art, wie wir Alkohol konsumieren, verändert und Genuss nicht mehr vom Promillewert abhängt.

Es ist Freitagabend in Wien. In einer Bar nahe der Neubaugasse füllen sich die Tische, Gläser klirren und Stimmen überlagern sich im Mix aus Lachen und Musik. Zwischen Aperol Spritz, Bier und Espresso Martini bestelle ich beim Kellner einen Virgin Cosmopolitan. Einen kurzen Moment huscht Irritation über sein Gesicht: „Ah, nichts Alkoholisches?“ Der Satz ist beiläufig, doch er verrät, wie tief Alkohol in unserer Alltagskultur verankert ist.

Wer ohne Bier oder Wein in der Hand unterwegs ist, fällt auf und muss sich oft noch rechtfertigen. Doch etwas verändert sich. Immer mehr Menschen wollen feiern und genießen, aber dabei klar bleiben. Was früher als Verzicht galt, wird heute zunehmend als Lifestyle-Entscheidung verstanden. Mocktails, Sparkling Teas oder alkoholfreier Sekt sind sichtbare Ausdrucksformen dieses Wandels, der sich quer durch die Generationen zieht und zunehmend die Trinkkultur prägt.

„Längerfristig betrachtet, wird heute deutlich weniger Alkohol konsumiert als noch in den 1970er-Jahren“, sagt Julian Strizek, Soziologe und Suchtforscher. Besonders auffällig ist die Entwicklung bei Jugendlichen: In der jüngsten Schüler:innenbefragung von 2024 gaben vier von zehn 15- bis 16-Jährigen an, im letzten Monat gar keinen Alkohol getrunken zu haben. „War früher der Kontakt mit Alkohol in diesem Alter absolut die Norm, gibt es heute eine relevante Gruppe, die zumindest vorläufig verzichtet.“

Warum wir weniger trinken

Der Rückgang des Alkoholkonsums ist kein launiger Trend, sondern Teil einer langfristigen Entwicklung, die auch alkoholbedingte Probleme wie Unfälle im Straßenverkehr deutlich reduziert hat. Österreich liegt dennoch weit vorne im internationalen Ranking: Laut einer neuen Auswertung von CPR First Aid belegt Österreich beim Pro-Kopf-Konsum mit 11,62 Litern reinem Alkohol pro Jahr den dritten Platz weltweit – nach Litauen und Tschechien. Zum Vergleich: Der OECD-Durchschnitt liegt bei 8,6 Litern. Zwischen G’spritztem, Schnapserl und Heurigen scheint der Griff zum Glas fast selbstverständlich – gleichzeitig zeigen vor allem die jüngeren Generationen klare Grenzen.

Welche Faktoren treiben diese Entwicklung voran? Julian Strizek mahnt, keine simple Ursache zu suchen: Migration von muslimischen Menschen oder Gesetzesverschärfungen allein erklären das Muster nicht. Vielmehr deute vieles auf einen breiteren kulturellen Wandel hin, der in vielen wohlhabenden westlichen Ländern gleichermaßen sichtbar ist. Dazu gehören veränderte Wertvorstellungen, neue Lebensentwürfe und die digitale Welt, in der junge Menschen aufwachsen. Der Suchtforscher bringt es mit einer zugespitzten Formel auf den Punkt, die er dem Soziologen Adam Burgess entnimmt: „less pressure to conform, more pressure to perform“ – weniger Gruppenzwang, mehr Leistungsdruck.

Es wird heute deutlich weniger Alkohol konsumiert als noch in den 1970er-Jahren.

Julian Strizek, Soziologe und Suchtforscher

Digitale Öffentlichkeit und Selbstdarstellung spielen dabei eine wichtige Rolle. Social Media verlagert soziale Interaktion ins Netz und schafft zugleich eine ständige Sichtbarkeit: Fotos von betrunkenen Abenden können zwar Likes und Aufmerksamkeit bringen, aber auch Schaden. „Mit Alkoholkonsum kann ich online also wenig gewinnen, aber viel verlieren“, erklärt Strizek.

Zudem sind viele Jugendliche häufiger zu Hause, unter elterlicher Aufsicht oder in digitalen Räumen, und damit physisch weniger unterwegs als frühere Generationen. Das Zusammenspiel aus Körperbewusstsein, digitaler Selbstdarstellung und Leistungsdruck macht Alkohol weniger attraktiv.

No/Low Alcohol: Stadt versus Land

Vor allem in urbanen Räumen wird der No- oder Low-Alcohol-Trend sichtbar. Strizek beobachtet, dass neue Trinkrituale vor allem in Städten entstehen, während Alkohol im ländlichen Milieu noch stärker verankert ist – etwa bei Vereinen, Zeltfesten oder traditionellen Feiern. Verlässliche Zahlen zur Stadt-Land-Differenz fehlen zwar noch, doch die Wahrnehmung ist eindeutig: Innovationen im Getränkemarkt und neue Trinkrituale entwickeln sich derzeit primär in urbanen Szenen. Interessant ist, dass der Rückgang bei Alkohol nicht automatisch mit einem Anstieg klassischer illegaler Drogen einhergeht.

Cannabiskonsum ist weitgehend stabil, andere Substanzen wie synthetische Cannabisprodukte oder Lachgas treten zwar häufiger auf, aber das Gesamtbild bleibt heterogen. Insgesamt erweitern Jugendliche die Palette an Rauschmitteln, ohne Alkohol vollständig zu ersetzen.

Neue Bewegungen

Parallel zu den gesellschaftlichen Entwicklungen wächst eine lebendige Szene, die alkoholfreien Genuss neu denkt. Die Wiener Initiative „The Sober Hedonist“ etwa zeigt, dass alkoholfrei nicht Verzicht bedeutet, sondern ein Statement sein kann. Gründerin

Bettina Wittman spricht von einer „Zeitenwende“: Jahrzehntelang sei Alkohol das soziale Schmiermittel gewesen. Wer nicht mittrank, galt schnell als Außenseiter. „Doch das kippt gerade“, sagt Wittman. Ihre Mocktail-Workshops sind ein Spiegel dieser Veränderung: Jugendliche mixen alkoholfreie Drinks als Geburtstagshighlight, Unternehmen buchen Teamevents ohne „Saufkultur“, Freundesgruppen oder Paare probieren Mocktails als Alternative zum klassischen Cocktailabend.

No/Low Alcohol
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„Das Faszinierende ist: Die Zielgruppen sind viel breiter, als ich anfangs gedacht hätte“, erklärt Wittman. Vor allem das Image habe sich gewandelt: Früher musste man sich rechtfertigen, wenn man nichts trank – heute bedeutet alkoholfrei: „Es geht nicht ums Weglassen, sondern ums Dazugewinnen – Energie, Klarheit, Bewusstsein.“ Inklusion ist für sie zentral: Niemand soll sich am Rand fühlen, weder mit noch ohne Alkohol.

Vor vier Monaten eröffnete der Wiener Bottleshop kein&low im 7. Gemeindebezirk, spezialisiert auf alkoholfreie und alkoholreduzierte Getränke. Die Gründer:innen Lucas Matthies und Friederike Duhme berichten, dass sie seit der Eröffnung des Shops viele berührende Geschichten und unterschiedliche Motivationen von Kund:innen erfahren durften. „Je mehr Menschen sich über ihren eigenen sich wandelnden Konsum aussprechen, desto mehr Menschen schließen sich an“, so die innovative Gründerin.

Ihre Motivation ist persönlich: Friederike, ausgebildete Sommelière, hatte Alkohol zunehmend nicht mehr als Genussmittel, sondern als Betäubung erlebt. Der eigene Schlussstrich machte deutlich, wie sehr hochwertige Alternativen fehlen. Im Shop stößt man auf Sparkling Teas, Kombucha und Proxies – Getränke, die keine Imitate sein wollen, sondern eigenständig schmecken.

Entalkoholisierter Wein macht nur einen Bruchteil des Sortiments aus. „Wir erleben gerade, wie No/Low zur Genusskultur wird. Es zieht inzwischen eher die Neugierde auf diese neue Getränkewelt, als das Argument, dass es keinen Alkohol enthält“, erklärt die Betreiberin. Initiativen wie kein&low und The Sober Hedonist zeigen: Es geht nicht mehr darum, Wein oder Bier ohne Promille abzubilden, sondern eine eigenständige Genusskultur zu schaffen.

Die Branche reagiert

Was vor wenigen Jahren noch belächelt wurde, ist inzwischen ein ernsthafter Wirtschaftsfaktor. Immer mehr Weingüter und Spirituosenhersteller:innen reagieren auf diese Entwicklung, indem sie alkolholfreie oder Getränke mit niedrigem Alkoholgehalt ins Sortiment aufnehmen. So brachte das Weingut Hagn dieses Jahr zwei alkoholfreie Produkte auf den Markt und auch das Weingut Alois Höllerer überraschte mit einem niedrigprozentigen Weincocktail. „Wir wollten den Schritt wagen, weil die Nachfrage massiv steigt“, sagen die Winzer:innen. Es geht nicht nur um Ökonomie, sondern auch um die Wertschätzung junger Zielgruppen für bewussten Genuss.

Auch Online-Getränkehändler:innen wie Feingeist haben alkoholfreie Produkte inzwischen fest im Sortiment. Das Publikum: bunt gemischt – von jungen Erwachsenen bis hin zu gesundheitsbewussten Kund:innen, werdenden Eltern und neugierigen Genießer:innen. Das Ergebnis: Aus einer Nische entwickelt sich Schritt für Schritt ein neuer Standard, bei dem Genuss und Promille nicht mehr automatisch zusammengehören.

Blick nach vorne

Nüchtern betrachtet ist eines klar: No/Low ist kein kurzlebiger Hype, sondern Ausdruck einer Kultur, die Genuss neu denkt. Winzer:innen, Bars und Spirituosenhändler:innen reagieren darauf – nicht, um Alkohol zu ersetzen, sondern um echte Alternativen zu bieten. Dabei verändern sich Rituale und Begegnungen: Junge Menschen verbringen mehr Zeit zu Hause, klassische Treffen verlagern sich in digitale Räume, während neue Formen des Austauschs entstehen.

Doch gerade darin liegt die Chance. Eine neue Getränkekultur öffnet Räume für kreative Drinks, gemeinsames Experimentieren und bewusstes Genießen. Wer heute ein Glas hebt, tut das oft neugierig, reflektiert und offen für neue Erfahrungen – ganz ohne automatische Gewohnheiten. Alkoholfrei kann verbinden, Gespräche anstoßen und Momente schaffen, die anders, aber nicht weniger intensiv sind. Vielleicht ist genau das das Überraschende: Nicht weniger Geselligkeit, sondern eine neue, lebendige Form davon.

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