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Realtalk: Beziehung und Treue in der Zeiten der digitalen Welt.
In der Philosophie wird seit jeher versucht, die Welt und die menschliche Existenz zu ergründen, zu deuten und zu verstehen. Doch was sagen die großen Denkerinnen und Denker unserer Zeit zum Thema Liebe? Wir haben mit Philosoph und Autor Robert Pfaller über Beziehung und Treue im Zeitalter der Digitalisierung, und ob die Liebe noch zu retten ist, gesprochen …
Vor mehr als zehn Jahren hat Robert Pfaller ein Buch darüber geschrieben, wofür es sich zu leben lohnt. Seine Erkenntnis damals war, dass es oft die kleinen Momente – wie ein inspirierendes Gespräch, ein gutes Glas Wein oder Momente der Zärtlichkeit – sind, die das Leben lebenswert machen, aber unsere Kultur sich solche Momente immer mehr verbietet. Heute, mehr als zehn Jahre und einige große Krisen später, ist die Frage, wofür es sich zu leben lohnt, dringlicher denn je. Und auch unsere Beziehungen, oder zumindest die Suche danach, haben sich in Zeiten von Tinder und Co. verändert. Wir haben mit dem Wiener Philosophen, der an der Kunstuniversität in Linz lehrt, über moderne Beziehungen, Treue und die Zukunft der Liebe gesprochen.
Herr Pfaller, hat sich in den letzten zehn Jahren etwas an Ihrer Erkenntnis, wofür es sich zu leben lohnt, geändert?
Robert Pfaller: Unsere Haltung ist dieselbe geblieben. Lediglich die Begründungen wechseln, die wir anführen, um uns das Leben zu verderben. War vor Kurzem noch die Gesundheit der Götze, auf dessen Altar wir alles opfern wollten, was das Leben lebenswert macht, so ist es heute eher die Ökologie. Das Ergebnis aber bleibt gleich. Wir sind auf sehr unvernünftige Weise vernünftig. Denn wir verderben uns mit unserer vermeintlichen Vernunft nur das Leben, ohne an den erkannten Problemen etwas zu ändern.
Wir sollten uns also nicht zu viel verbieten. Was heißt das für die Liebe?
Auch die richtige Idee der Geschlechtergerechtigkeit missbrauchen wir derzeit oft, um uns das Leben zu erschweren. Eigenartigerweise haben wir es geschafft, uns die Geschlechterverhältnisse völlig zu vermiesen – vor allem natürlich die heterosexuellen, aber alle anderen folgen ihnen ja auf dem Fuß. Ich kann mir kaum eine Epoche der Geschichte vorstellen, in der die Frauen und die Männer so wenig aneinander interessiert und so wenig fähig gewesen wären, die Eigenarten der anderen als etwas Interessantes, als eine Bereicherung und als Vorteil zu sehen. Die jungen Frauen verabscheuen die Männer, und die jungen Männer sind vor allem verunsichert und wissen nicht, wie sie es den Frauen recht machen sollen – was es aus Sicht der Frauen übrigens noch schlimmer macht. Auf allen Seiten scheint es nur VerliererInnen zu geben. Die Tatsache, dass die Mehrheit der Transgender-Personen heute Frauen sind, die lieber Männer sein wollen, während es vor etwa 20 Jahren noch umgekehrt war, stellt unseren Bemühungen um Geschlechtergerechtigkeit ein trauriges Zeugnis aus.
Es gibt Paare, für die Untreue schon beim Ausgehen oder Urlaub machen ohne die Partnerin oder den Partner beginnt. Schränkt man sich da nicht zu sehr ein? Wo beginnt und wo endet Treue?
Es gibt eine Bemerkung Friedrich Nietzsches (in seiner Schrift „Jenseits von Gut und Böse“), die ich diesbezüglich zugleich amüsant und aufschlussreich finde. Er sagt sinngemäß: Eine erste Person hat das Gefühl, eine andere Person zu besitzen, wenn diese geliebte Person sich ihr hingibt. Eine zweite dagegen, anspruchsvoller, will, dass die geliebte Person sich zugleich niemand anderem hingibt. Einer dritten Person aber reicht auch das noch nicht: Sie will Beweise, dass wirklich sie selbst geliebt wird, mit all ihren Lastern, und nicht etwa ein idealisiertes Phantom von ihr. Was Nietzsche hier gut zeigt: man kann es sich mit diesem Anspruch auf Besitz oder Treue auch schwer machen und nie zufrieden sein. Darum muss man sich entscheiden, wo man haltmacht. Es mag jedoch dabei helfen, wenn man sich daran erinnert, dass die Sache auch anders gesehen werden könnte.
Auch das Gegenteil ist gerade „en vogue“: Polyamorie und offene Beziehungen boomen. Das Internet hat die Liebe, oder zumindest die Suche danach, radikal verändert. Unzählige Dating-Apps, Seitensprung-Portale und Pornoseiten überfordern uns – ist die Liebe angesichts dieser Versuchungen noch zu retten?
Die Festigkeit der Zweierbeziehungen hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Kaum jemand denkt noch wie in den 1960er- oder 1970er-Jahren an Partnertausch-Partys, an Gruppensex oder gar an neue, utopische Lebensformen, welche die Zweierbeziehung ersetzen könnten. Unsere aktuellen vermeintlichen Wagnisse und Internet-Experimente existieren meist lediglich als prickelnder Zusatz zur festen Beziehung – etwa so, wie viele derzeit ein Elektroauto nicht statt, sondern neben einem Benziner haben.
Wie wirkt sich die Digitalisierung auf die Liebe aus?
Die einfachen Formen von Geselligkeit werden dadurch vernachlässigt und sterben ab. So träumen wir von völliger intimer Übereinstimmung mit irgendwelchen fernen Personen, anstatt uns im Umgang mit wirklichen Menschen darin zu üben, etwas umgänglicher und geschmeidiger zu werden, sodass wir in der Folge wenigstens halbwegs mit irgendjemandem zusammenwachsen könnten.
Was ist wichtig für eine Beziehung, in der beide PartnerInnen ein glückliches Leben führen können?
Vor allem, dass sie denselben Institutionenwunsch haben. Also eine ähnliche – und auch eine ähnlich klare – Vorstellung der Form, in der sie miteinander leben möchten. Viele Beziehungen scheitern ja oft schon an der Frage, ob man zusammenwohnen, ob man die Verwandten oder FreundInnen des anderen kennenlernen bzw. ob man ein Haustier oder gar Kinder haben möchte.
Haben Sie eine Idee, wie Beziehungen in zehn Jahren aussehen werden?
Vermutlich nicht sehr viel anders als jetzt. Wenn man bedenkt, dass die vorangegangene Epoche, in der Liebe und Sexualität als etwas Großartiges, Glückbringendes und Befreiendes betrachtet wurden, in der westlichen Welt immerhin etwa 70 Jahre gedauert hat – nämlich ungefähr bis 1990 –, so muss man davon ausgehen, dass unsere jetzige Epoche, welche all dies vorwiegend als heikles Terrain der Ungleichheit und Unfreiheit, der Übergriffe und Missbräuche interpretiert, wohl auch noch mehrere Jahrzehnte dauern könnte.
Univ.-Prof. Dr. phil. ROBERT PFALLER
Professor für Philosophie an der Kunstuniversität Linz.
2020 ausgezeichnet mit dem Paul-Watzlawick-Ehrenring der Ärztekammer Wien.
Veröffentlichungen u. a.: Zwei Enthüllungen über die Scham (2022); Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur (2017);
Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie (2011).
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