Können wir „Girl Math“ endlich abschaffen?
Toxischer Social-Media-Hype
© Unsplash/ JP Valery
Frauen sind schlecht in Mathe, shoppen zu viel und haben keinen Überblick über ihre Finanzen – diese Stereotype werden vom TikTok-Trend „Girl Math“ noch weiter angefeuert. Dabei rechtfertigen junge Frauen das eigene Kaufverhalten mit verdrehten Rechnungen – offensichtlich mit Augenzwinkern.
„Wenn ich mit Bargeld bezahle, fühlt es sich an, als sei mein Einkauf gratis, weil er mein Konto nicht schmälert“, so eine der lustig gemeinten Theorien.
„Girl Math“ ist ein toxischer Trend
Bei jedem Schmunzler müssen wir uns fragen, auf wessen Kosten Witze gelacht werden. Nämlich auf unsere eigenen. Frauen werden nebenbei als Girls tituliert und damit kleingehalten. Es sind bedenkliche Klischees, die
junge Nutzer:innen unreflektiert aufnehmen und reproduzieren. Noch problematischer ist der Umstand, dass die meisten dieser Videos von Frauen selbst stammen.
Dabei müssten sie es so viel besser wissen: Care- und Teilzeitarbeit, niedrige Pensionen – es gibt so viele Gründe, warum wir die Finanzen von Frauen ernst nehmen sollten. Den verantwortungsvollen Umgang mit Geld müssen wir uns durch fehlende Finanzbildung an den Schulen selbst aneignen. Trends wie „Girl Math“ sind dabei nicht gerade hilfreich.
Gefährliche Stereotype werden bedient
TikTok allein die Schuld in die Schuhe zu schieben, wäre aber falsch. Es gibt zahlreiche Beispiele aus der Popkultur, die sich diesem Klischee bedienen. Wir denken an Carrie Bradshaw aus „Sex and the City“, die sich die Anzahlung für ihre Wohnung nicht leisten konnte.
Ihre Freundin Miranda rechnet es ihr vor: 400 Dollar für ein paar Schuhe sind beim Besitz von 100 Paar Schuhen… 4.000 Dollar, behauptet Carrie, bis sie bemerkt, dass ihr eine Null entgangen ist. „Ich habe 40.000 Dollar für Schuhe ausgegeben und hab’ keinen Platz zum Leben?“, so ihre entsetzte Antwort, bis ihr Samantha schließlich das Geld borgt.
„Leider haben nicht alle eine Samantha, die sie rettet“, sagt die Vermögensberaterin Larissa Kravitz, die sich auf die Finanzbildung von Frauen spezialisiert hat und mit ihrem Podcast „Investorella“ und einem Online-Programm Menschen die Angst vor dem Investieren nimmt.
Dieser kindische Aspekt, sich beim Konsum nicht zurückhalten zu können, wird mit Weiblichkeit assoziiert.
Larissa Kravitz, Vermögensberaterin
„Die Rationalisierung von ungesundem Konsum finde ich an den ‚Girl Math‘-Videos besonders problematisch“, sagt Kravitz im Interview mit der WIENERIN. „Dieser kindische Aspekt, sich beim Konsum nicht zurückhalten zu können, wird mit Weiblichkeit assoziiert. Nach dem Motto: ‚Frauen können nicht anders, als 100 Paar Schuhe zu kaufen‘“,kritisiert sie. Der Trend suggeriere gleichzeitig: Wenn alle das machen, ist das okay, so die Finanzexpertin.
Konsumschulden steigen
Bessonders problematisch an Social-Me dia-Trends wie diesen: Er richtet sich an junge Menschen. „Die Zahl der jungen Schuldner:innen steigt“, erklärt die Finanzexpertin. Konzepte wie „Buy now, pay later“ seien besonders gefährlich. „Der Vergleich auf Social Media bringt sie dazu, mit anderen mithalten zu wollen. Waren es früher die Nachbarn, die man beneidet hat, tritt man jetzt gegen tausende Reiche aus dem Internet an“, so Kravitz.
„Bei diesen Videos geht es teilweise um wirklich viel Geld – beispielsweise um ein Armband um 6.000 Euro“, kritisiert sie. „Man lässt junge Menschen im Glauben, dass das ein normaler Preis für ein Armband sei.“ Einen Geschlechterunterschied gäbe es laut Studien aber keinen, weiß Larissa Kravitz.
Junge Männer würden sich genauso oft verschulden wie Frauen. Die Luxusgüter sind aber andere: Sie häufen eher durch Auto-Leasingverträge Schulden an. „Die Geschlechtertrends sind leider ganz klar. Frauen geben dreimal so viel für Schönheits- und Beautyprodukte aus.“
Schulden in jungen Jahren können Menschen sehr lange nachhängen, weiß die Finanzexpertin aus Erfahrung mit ihren Kund:innen.
Anti-Girl-Math-Maßnahmen: Sparpläne früh anlegen
„Beim Investieren erzielt man aber die besten Resultate, wenn man jung anfängt“, weiß Larissa Kravitz. Etwa in Fonds oder ETFs wären Ersparnisse ganz gut angelegt. „Wer früh damit anfängt, hat länger etwas vom Zinseszins-Effekt. Weniger klug ist es, Anfang 20 das verdiente Geld für Luxusartikel auszugeben.“ Bei einem Armband oder einer Handtasche sinkt der Wiederverkaufswert nämlich deutlich im Laufe der Zeit.
Warum muss es ausgerechnet ‚Girl Math‘ heißen? Da wird die Sache einfach sehr misogyn.
Nunu Kaller, Autorin und Aktivistin
Designware wird exklusiver
Die Preise von Designartikeln sind im letzten Jahrzehnt stärker als die Inflation gestiegen, weiß die Finanzexpertin. Der Grund dafür liege darin, einen exklusiven Club erschaffen zu wollen: „Designer:innen
möchten von superreichen Klient:innen getragen werden. Das macht es für Menschen noch spannender.“
„Ich kauf nix!“
Auch die Autorin und Aktivistin Nunu Kaller sieht den Trend rund um „Girl Math“ kritisch. „Inzwischen sind
ein Viertel aller Personen, die bei der Schuldnerberatung vorstellig werden, unter 30. Trends wie ‚Girl Math‘
halte ich nicht zwingend für konstruktiv, aus der Schuldenfalle rauszukommen“, kritisiert Kaller.
Am Social-Media-Trend des absichtlichen Dummstellens sieht sie aber noch an einer weiteren Sache ein Problem: „Warum muss es ausgerechnet ‚Girl Math‘ heißen? Da wird die Sache einfach sehr misogyn.“ Sie glaube nicht, dass die Ironie wirklich bei allen User:innen ankomme: „Manche, die das sehen, lernen unbewusst: ‚Ah, von Mathe muss ich keine Ahnung haben‘. Und bei Burschen wird der Ruf ‚Mädchen sind doof‘ gefestigt.“
In ihrem Buch „Ich kauf nix!“ erzählt die Wienerin über ihre Erfahrungen, ein Jahr ohne Shoppen auszukommen.
Sie selbst kennt den Drang nach materiellem Besitz nämlich genauso gut wie alle anderen: „Was ich mir früher selbst eingeredet habe, warum ich dieses Paar Jeans jetzt auch noch brauche, ist beeindruckend.“
Minderwertigkeitsgefühle als Kaufanregung
„Der Ursprung für diesen Drang liegt bei den Frauenmagazinen, deren Grundkonzept es seit den Anfängen in den 1920er-Jahren war, den Leser:innen einen Mangel einzureden, um ihnen Produkte zu verkaufen“, erklärt
die Nachhaltigkeitsexpertin. Das Bedürfnis, etwas zu kaufen, käme oft von außen: „Diese vermeintlichen Mängel
sollen dann durch das Konsumangebot gelöst werden.“
Waren es zu Beginn Magazine, verlagerte sich das Problem zusehends ins Internet. „Momentan wird
wirklich alles kommerzialisiert – sogar Themen wie Feminismus oder Klimaschutz“, weiß Kaller. Dabei würden Geschlechterrollen nicht mehr eine ganz so große Rolle spielen: „Auch Männer werden angesprochen, wenn auch Konsum zu einem überwiegenden Teil grundsätzlich ein weibliches Thema ist.“
Wie sie selbst einkauft? „Ich achte darauf, wo meine Sachen herkommen und stelle mir die Frage: Brauche ich das
wirklich?“, sagt sie. „Ein kritischer Zugang zu den Konsumsystemen ist wichtig“, betont die 42-Jährige. „Der Schalter muss sich einfach umlegen. Der Knopf dazu liegt aber bei jedem Menschen woanders:“